86. Etappe: Belorado – Atapuerca

Ich bin heute schon um Punkt 8:00h auf der Strecke gewesen, weil es relativ lang geht und gegen vier dann auch richtig heiß werden soll. Also gilt es die Kräfte gescheit einzuteilen, viele Pausen zu machen und trotzdem vor der großen Hitze im Zielort zu sein. Deshalb geht es ohne Kaffee los, vor allem aber ohne diesen frischgepressten Orangensaft, den es hier allerorten gibt. Das ist ein Vitaminlieferant wie ich ihn mag, vor allem schön gekühlt. Herrlich. Gesund kann auch gut schmecken.

Die Strecke führt zunächst durch den Ort, der offensichtlich hauptsächlich vom Tourismus lebt. Das ist also rasch durchschritten und es geht zunächst weiter durch wogende Kornfelder, aber ohne überwältigendes Panorama, eben weil es voll flach ist. Nach anderthalb Stunden ist ein Boxenstopp fällig und die Kaffee/Orangensaft-Kur wird nachgeholt. Frischgestärkt geht es dann wieder anderthalb Stunden bis Villafranca – Montes de Oca, wo eine frühe Mittagspause eingeplant ist. Die Bars an der Durchgangsstraße sind allerdings wenig einladend und ich mache mich schon auf das Schlimmste gefasst, als ich im Bergauf rechts in einen schönen Biergarten gucke, der zu einem Hostal gehört. Dann gibts da auch ne Bar zum Garten, denk ich mir und betrete dieses Kleinod. Richtig gedacht. Eiskalte Cola und ein Bocadillo mit Lomo, das ist ein Sandwich mit Minutenschnitzeln und eingelegten Paprika belegt. Der Hammer ist aber das Brot, eine Art Chiabatta, ich denke mit a weng Maismehl. So gut, daß ich nachfrage. Das Brot, das natürlich das Beste der Welt und wird so nur in den Bergen, die Nord-Süd verlaufen, gebacken und ich, der ich in Ost-West-Richtung unterwegs bin, hab nun keine Gelegenheit zur Verkostung mehr, weils direkt nach dem Biergarten steil bergauf geht und ich die Montes de Oca übersteige.

Es geht nun durch ausgedehnte Waldgebiete, die reichlich Schatten bieten, was bei dem mittäglichen Sonnenstand eine feine Sache ist. So mittendrin wird dann ein Monument angekündigt, also ein Denkmal, was am Jakobsweg nichts außergewöhnliches ist. Es entpuppt sich dann aber als was ganz Besonderes, weil es sich um ein Denkmal für ermordete Republikaner handelt, die dort wohl 1936 erschossen wurden. Ihre Gebeine wurden erst 2011 ausgegraben, also 75 Jahre nach der Tat und etwa 35 Jahre Jahre nach Francos Tod. Das kann als weiterer Beleg für die mangelnde und verspätete Aufarbeitung dieser Jahre in Spanien gewertet werden, aber meine Gedanken sind woanders. Rucksack bei Seite stellen, Fahne rausholen, flaggen und den Toten die Ehre erweisen, die ihnen gebührt. Das die Rast machenden Wanderer komisch gucken, stört mich nicht. Das mich niemand anspricht schon eher. Nach 20min ist die kleine Feier aber auch vorbei.

Es geht weiter durch den Wald und zwar 12km. Einziger Lichtblick ist die Oasis de Camino, eine von einem Hippiemädchen betriebene Versorgungsstation mit Hängematten und Kaltgetränken. Kaltgetränk nehm ich, Hängematte ist für andere. Auch wenn mir die chillige Musik nach einer Zeit auf den Wecker geht, ist das ein netter Fleck Erde, wo man es eigentlich aushalten kann. Eigentlich. Weiter gehts auf breiten Forstwegen durch den Wald und ich begegne einer leibhaftigen Schlange. Lebend. Schwarz mit  voll gefährlichen Zackenmustern. Aber sie tut mir nichts, ich tue ihr nichts und alles ist gut. Dann hat es sich mit dem Wald und vor mir tut sich eine schier endlose Ebene auf. Im nächsten Örtchen ist auch das erste Mal auf einem Transparent die Rede von Don Quichote, dessen Wirkungskreis ich mich wohl allmählich nähere. Und im übernächsten Ort bin ich dann endlich am Ziel. Kurz nach Vier. Eine Casa Rural, also ein umgebautes Bauernhaus. Ich erhalte ein schönes Zimmer mit Holzfußboden, aber bevor es Richtung äußerlichen Anwendungen geht, will ich erstmal ein schönes, kaltes Bier. Also werden die Wandertreter gegen die Crogs getauscht, der Gastraum betreten, ein Bier bestellt und ein schattiges Plätzchen auf der Terasse gesucht. Gefunden und gefunden worden von einer Wanderin aus Dortmund, Typ alleinerziehende Hausärztin im Ruhestand. Schön an diesen Ruhrgebietsgewächsen mit Haaren auf den Zähnen ist ja, daß der Small Talk auch schonmal derber geführt werden kann. Passt zum Bier und macht Spaß, aber mein Körper schreit nach Bad und Liege. Also verabschiede ich mich. Als die gute Frau schnallt, daß es in der Butze auch Einzelzimmer für kleines Geld gibt, sie aber im Schlafsaal unter ist, kriegt sie Schnappatmung. Naja, kann ich nich für… würde man in Ewing wohl sagen. ☺

Das Dorf ist eigentlich zu klein für einen anständigen Corso. Trotzdem ziehe ich los, entdecke einen Minimercado und fülle meine Nektarinenvorräte wieder auf. Und weil sich sonst nichts anbietet, esse ich im Resto der Unterkunft, was sich als gute Wahl erweisen soll. Zunächst gibt es eine Linsensuppe mit kleinen Berglinsen, die diesen nussigen Geschmack haben und in Italien aus Norcia, in Frankreich aus Le Puy und in Deutschland von der schwäbischen Alb kommen. Wo es die in Spanien gibt? Keine Ahnung. Die Einlagen in der Suppe sind Morcilla und Chorizoscheiben, die hier schon wieder anders schmecken, als im Baskenland und im Rioja. Alles gut. Und es soll besser werden. Lammkoteletts, wie ich sie schon lange nicht mehr oder noch nie geschmeckt habe. So gut, daß ich die Finger nehme, um auch den letzten Fitzel Geschmack mitzunehmen. In einer Casa Rural geht das eventuell, aber es ist soooo gut, daßmir das eigentlich egal ist. Dazu gibt es gegrillte grüne Chillies und Bratkartoffeln. Dazu einen weißen Verdejo, einer Rebsorte, die sich gerade in meine Top Ten spielt. In der Regel echt guter Stoff!

Ich glaub, ich frage mal, ob es noch son Viertele gibt und setz mich noch was auf die Terasse. Gegessen habe ich nämlich drinnen, wie die Spanier und ein Franzosenpärchen auch, weil es abends halt die Zeit ist, wo Mücken und Fliegen unterwegs sind. Davon bleib ich lieber unbehelligt. Und dann werde ich nochmal was zu Nizza und dem Putschversuch oder der Inszenierung eines Putschversuchs lesen. In was für einer bekloppten Zeit leben wir eigentlich? Naja, ob sie so bekloppt ist? Ein lieber Freund zitiert dazu gerne R.E.M „It’s the end of the world as we know it“ und meint damit das unaufhaltsame Ende einer Politik der fossilen Nichtnachhaltigkeit. Was wir, denke ich, in dieser Diskussion völlig unterschätzt haben, sind die gewalttätigen und perfiden Formen, die das Rat Race um den letzten Tropfen Öl, den letzten Euro und den letzten Profit annehmen wird und welchen ideologischen Überbau sich diese Auseinandersetzung sucht. Das lohnt sich doch, drüber nachzudenken. Und zwar unter Spaniens Himmel. Wo sonst?

Nachtrag. Bei der Rechnung hat sich der Kollege zu meinen Gunsten verrechnet. Als ich das moniere, freut er sich einen Ast, weil ihm das schon lange nicht mehr passiert ist. Also das sich jemand meldet, der zuwenig bezahlt hat. Und das bei den ganzen PilgerInnen… ?

85. Etappe: Santo Domingo de la Calzada – Belorado

Wie soll ich denn anfangen? Vielleicht so. Seit jungen Tagen und der Einführung des Frühstücksfernsehens, kann ich den Finger nicht von der Fernbedienung lassen, wenn ich in der Reichweite derselben genächtigt habe. Das war ganz früher in der WG der Fall, heutzutage eben in Hotels, weil ich es mir für daheim echt verboten habe. Und wo habe ich übernachtet? Richtig. Im Hostal mit Fernseher… Also an damit, und dann die schrecklichen Bilder aus Nizza. Eine Stadt, die ich sehr mag. An der Cote d‘ Azur, einem Sehnsuchtsziel. Unweit von einem Campingplatz, der mir im Zusammenspiel mit der Stadt vor 25 Jahren drei wunderbare Tage mit Blicken über Stadt und Mittelmeer und viel Nachdenken und Klarheit verschafft hat. Meine Stadt, so ein bißchen. Und eine liebe Freundin war erst vor kurzem dort. Das macht es alles irgendwie so konkret, so nah, so nah an mir.

Und in all der Trauer wird in dieser Sendung sofort die Gleichung Tunesischer Hintergrund = Moslem= Islamist/Gaesh aufgemacht. Das macht mich wütend, weil es darum doch schon lange nicht mehr geht. Es ist egal, ob es ein durchgeknallter Irgendwas oder ein politischer Aktivist ist. Der Repressionsapparat wird sich weiter drehen. Frankreich lebt nun seit den Anschlägen von Paris im Ausnahmezustand. Die französische Regierung hat diese Zeit auch genutzt, um die französischen HartzIV-Gesetze durchzusetzen, und das eben auch mit Knüppelei und Tränengas, was auf meinem Weg durch Frankreich nur Wenige gestört hat. Das alles in einem Atemzug zu tun, hat die Regierung Hollande weiter auf den militärischen Weg gezwungen und das ist das Einfallstor für Durchgeknallte an sich und für politische Schwerverbrecher, weil er Ihnen damit in ihren Augen Legitimität für ihre Taten verleiht. Und er hat gestern Nacht die Rechnung präsentiert bekommen. Dabei hätte er es besser wissen können. Bereits vor fast oder mehr als 100 Jahren hat der gute Lenin die Spirale aus individuellem Terror, und auch Lenin wußte schon zwischen durchgeknallten Einzelpersonen und wahnsinnigen Organisationen zu unterscheiden, und Repression beschrieben. Dieser Anschlag macht Le Pen zur nächsten Präsidentin und die Spirale der Repression geht weiter. Das Angela Merkel die leninsche Erkenntnis so eiskalt richtig umgesetzt hat, halte ich ihr zu Gute. Daß sie mittendrin die Linie verliert, ist eine ganz blöde Geschichte. Aber. Und das meine ich ernst. Sie hat den Druck aus dieser Repressionsnummer genommen und daraus ein zivilgesellschaftliches Problem gemacht. Prima. Jetzt können wir es aushandeln. Zusammen kochen oder Heime anzünden, aber wir als Gesellschaft, als Community entscheiden. Zur Zeit sieht es eher nach 2:0 für zusammen Kochen aus. Noch. Dafür müssen wir alles tun. Und solange sich die Cops, Rigaer und so, raushalten und niemand aus dem etablierten Lager schlechte Stimmung macht, kriegen wir das auch hin. Die Sozialdemokratie ist dabei schlechte Stimung zu machen, so leid mir das tut. Der kritische Faktor.den dieser Parteivorstand von Andrea bis Zigmar darstellt, ist dabei unglaublich, weil viele SPDlerInnen vor Ort ja prima unterwegs sind…. Denke ich, aber ich bin ja auch schon n viertel Jahr weg.  All das geht mir durch den Kopf . Morgens früh, wegen Frühstücksfernsehen, und sonst auch…

Ich verlasse heute die Region Rioja und komme in das von mir ungeliebte Kastilien. Das hat völlig emotionale Gründe, sicher gibt es da auch nette Menschen, aber für mich steht Kastilien für die spanischen KönigInnen, die Ausbeutung von Südamerika, aber eben auch von Galicien, Asturien, Kantabrien, Euskadi und Catalunya, für Imperialismus der ersten Stunde, für die Antiaufklärung und den klerikalen Konservatismus des frühen 20. Jahrhundert, der schlußendlich auch den Franco-Putsch und das Verharren dieses Landes bis weit in die 80er Jahre bewirkt hat. Die Älteren werden sich erinnern, was das war, als nach Francos Tod keine roten Fahnen durch Madrid getragen wurden, sondern der junge König gefragt wurde, ob er es nicht richten will… Das war 1974 in Portugal schon was anderes. Ich acht Jahre alt, aber die portugiesischen Arbeitskollegen meines Vaters in allerbester Laune. Das war Befreiung. In Spanien gabs Transition… Die InterrailerInnen der 80er werden sich sicher auch noch an den Unterschied zwischen Portugal und Spanien erinnern. In Porto am Bahnhof wurden wir mit bestimmt 400 Schlafsackleuten vorm Bahnhof liegend von der Polizei bewacht und in Spanien mit drei Rucksackis argwöhnisch beäugt. Das sind Lektionen fürs Leben!

Also jetzt dadurch. Und zwar ganz schön lange. Vorsichtig setze ich meinen Fuß über die Landesgrenze und stimme sicherheitshalber mal ein Lied an… “ unsre Heimat liegt heute vor Madrid…“ Es passiert nix. Also gehe ich weiter und werde von goldenen Weizenfeldern, die bis zum Horizont reichen und von der Sonne beschienen werden, geblendet. Wie schön. Das der Weg dabei die ganze Zeit an der N120 vorbeiführt ist fast egal. Die Landschaft malt sich selber als abstrakte gold-scharz Schattierung oder eben monochrom. Herrlich. Wenigstens was. Die Dörfer sind zumeist verschlafen oder nur noch auf Wanderer ausgerichtet und deshalb wenig berichtenswert. Ich komme dann im Zielort an, leg mich wieder aufs Bett, guck spanische Nachrichten, lese einen zur Vorsicht gemahnenden Jacob Augstein und den Rest von Internet und denke, daß der luhmannsche Aufsatz zur Soziologie der Politik, der die Reziprokität von Macht so ganz hervorragend beschrieben hat, also die Aufeinanderbezogenheit von Herrscher und Beherrschtem und der systemischen Komplexität des Prozesses, wenn einer von Beiden den Bezug zum Anderen verliert, von universellem Wert ist. Eine prägende Lektüre. Darüber duckel ich ein, drehe noch eine Runde durchs Kaff und beschließe in der etwas außerhalb gelegenen Unterkunft zu essen. Es macht keinen Sinn in einem von Camino-WandererInnen lebenden Ort nach einem gescheiten Resto zu suchen. Also heim. Das Obst für morgen aufs Zimmer und auf gehts. Salat als Vorspeise, Fritten und Schnitzelchen als Hauptspeise kennen wir. Genau wie die Musik. Ich speise mit dem Musikgeschmack von Henry Maske und diesem anderen deutschen Boxer aus den 90ern. Jetz läuft Conquer of paradise oder wie das heißt. Es ist grausam. Aber als Nachspeise ne Scheibe Melone. Ich gebe zu, Melone ist nicht so ganz mein Ding, aber das hier hat geschmeckt. Keine Friteuse, keine Mikrowelle konnte es verhunzen. Ich bin mal gespannt, wie das kulinarisch weitergeht. Das Viertele Wein zu Essen hatte auch was von Messwein, also irgendwie eine Myrre-Note. Deshalb gibts jetzt nochn Bier auf der Terasse und ich lasse meine Gedanken weiter fliegen. Vielleicht kriege ich sie ja auch mal noch sortiert, daß sie auf einen Bierdeckel passen. Allen die bis hierhin mitgelesen haben auf jeden Fall ein herzliches Danke. Ihr und sie müsst das ja auch alles aushalten.. 

84. Etappe: Najera – Santo Domingo de la Calzada

Was war das kalt. In der Nacht waren die Temperaturen derartig in den Keller gegangen, daß ich mir zunächst mit langer U-Hose und T-Shirt geholfen habe, über die ich dann nachts um drei noch den Reiseschlafanzug gezogen habe. Hat aber auch nichts genutzt. Der Schlafsack ist für einen richtigen Sommer gemacht und die Nacht war für die Katz. Gegen halb sechs bin ich dann doch weggedämmert und erst um halb neun wachgeworden. Boah, war ich fertig. Deshalb mussten es eine heiß-kalte Dusche, zwei Cafe con Leche und ein frischgepresster Orangensaft sein, bevor es auf die Strecke ging. Ich dachte, daß das späte Losgehen vielleicht von Vorteil sei, weil ich alleine unterwegs wäre, aber ich hatte diejenigen WandererInnen vergessen, die ihre Etappen mit geringeren Kilometerzahlen beplant haben und deshalb nicht bis Najera gekommen waren, aber eben um halb elf dort sein konnten, weil sie da schon zwei Stunden unterwegs waren. Naja, mittlerweile habe ich mich an Begleitung fast gewöhnt und die meisten habe ich dann im Laufe des Tages auch hinter mir gelassen. Da für heute nur 20km in 4h, wegen eigentlich recht flachem Streckenverlauf,  aufgerufen waren, ist das ja auch mehr unter Spazierengehen zu buchen. Deshalb genieße ich trotz des späten Aufbruchs die Landschaft. Am Horizont sind Berge zu sehen, die Ebene ist fruchtbar wie nur was und es wird Wein und Getreide angebaut. In den Weilern, die ich streife, betreiben die Menschen kleinere und größere Gemüsegärten, die allesamt prächtig dastehen. Dabei sind die Wege staubtrocken, geregnet hat es schon länger nicht mehr und ich sehe nun auch offene Bewässerungskanäle aus Beton und -gräben, die gezogen wurden. Durch einzelne Weingärten ziehen sich dicke, schwarze Schläuche zu den einzelnen Rebstöcken, was ja schonmal ein Fortschritt ist. Nach Tröpfchenbewässerung sieht das hier alles nicht aus. Und wieder mal denke ich drüber nach, was die Menschen wohl machen werden, wenn das Wasser entweder zerstört oder wegbleibt. Wie schnell werden sie sich darauf einstellen und welche Maßnahmen ergreifen. Wie können so Leute wie ich mithelfen, diesen Wandel, der ja zunächst in den Köpfen stattfinden muß, voranzutreiben. Wie sähe sie denn aus, eine Politik der klimafesten Landwirtschaft in Europa? Ich weiß es auch nicht genau, aber ich denke, es wäre wichtig, die richtigen Leute an einen Tisch zu holen, bevor auch der Klimawandel eine Frage der Metropolen wird.

In solcherlei Gedanken verstrickt erklimme ich eine Anhöhe, vergleichbar mit dem Wilseder Berg in der Lüneburger Heide, und lese kurz vor dem Gipfel ein Schild, das auf die exorbitante Jugendarbeitslosigkeit in Spanien verweist. Hier sind rund 60% der Menschen unter 25 Jahren ohne Arbeit und nicht mehr in Schule oder Hochschule. Das ist schon dramatisch, weil es eine Lost Generation sein wird, die diesem Land Spanien, diesem Europa helfen will und kann, aber einfach nicht gefragt wird. Zwanzig Meter nach dem Schild sehe ich einen Sonnenschirm, darunter ein junger Bursche, der Getränke und Camino-Gedöns für die vorbeidefiliernden Mittelschicht präsentiert. Ich erstehe eine Cola und frage nach dem Preis und er antwortet, daß jeder gibt, was er kann. Mein Herz geht auf und ich sage ihm, wie wichtig ich so ein Schild auf diesem Weg finde. Dann geht sein Herz auch auf und wir erzählen sehr offen warum und wieso. Als ich die Fahne der spanischen Republik aus meinem Rucksack zerre, ihm zeige und erzähle warum ich die seit Deutschland mit mir führe, kommt er um den Tisch und wir fallen uns als Freunde und Genossen um den Hals. Er zerrt sich das Hemd vom Leib und ich sehe ein Tatoo, das eben genau die Farben der Fahne zeigt. Und er beginnt zu erzählen, daß er eigentlich aus Leon, eigentlich Castilien, aber nahe an Asturien, kommt und dort Leute seit den 30er Jahren bis zu Francos Tod im Maquis gewesen sind, also versteckt gelebt haben und immer wieder die Franquisten angegriffen haben. Und das all diese Geschichten bis heute totgeschwiegen werden, weil sich das Establishment nach Francos Tod darauf verständigt hat, den Mantel des Schweigens über alles zu legen und heute auf den Zerfall des klassischen Zwei-Parteiensystems und dem entstehen neuer sozialer Bewegungen mit Repression reagiert. Ich erzähle von den Auseinandersetzungen in Deutschland mit AFD und Konsorten und den Abwehrkämpfen um die Aushöhlung des Sozialstaats , die wir mit der Umsetzung von Hartz IV und der Ökonomisierung des Sozialen schon 2000 verloren haben. Das alles auf Englisch-Spanisch, weil der Kollege des Englischen nämlich mehr als leidlich mächtig ist. Eine ganz tolle Begegnung und nach fb-Daten austauschen und gemeinsamen Fotos, mache ich mich tief bewegt auf meinen weiteren Weg.

Das Ziel ist bald erreicht. Ich checke ein und da sich vor halb sechs eh kein Schritt auf die Straße lohnt, geh ich horizontal und gucke Tour de France. Was hat dieses Ereignis mich früher vor die Glotze getrieben. Klaus Peter Thaler (ein Siegerländer), Didi Thurau, Indurain und wie sie alle heißen, aber das ist lange her. Ich gucke weiter und es fesselt mich nicht so ganz wie früher. Um halb sechs steige ich in den beginnenden Corso ein und gucke mir das Städtchen an. Schön und geschäftig. Ich such mir ein strategisch gutes Plätzchen und betrachte die Szenerie. Dann denke ich mir, daß ich meine Essensvorräte mal wieder auffüllen könnte. Was sich so dramatisch anhört ist ein Päckchen Erdnüsse und eine Dose Ölsardinen, die ich immer für den Fall dabei haben wollte, daß ich einen Hungerast kriege. Allerdings fühle ich mich mit der Versorgungslage bislang auf der sicheren Seite. Naja, sicher ist sicher. Und weil der Supermercado aufm Weg liegt, wird halt eingekauft.

Nach zwei Stunden Rumlaufen wird es mir auch leid und ich gehe in die Unterkunft zu der auch ein Resto gehört. Ich lege mich aber, trotz großem Hunger nochmal hin, weil das Resto erst in einer halben Stunde, also 20.30h, aufmacht. Punkt 20.30h bin ich da, natürlich der einzige Gast und das in einem Saal gegen den das Messerschmitt in Bamberg wie eine lebhafte Szenekneipe wirkt. Naja, wenigstens schwirrt nicht eine ganze Armee uniformierter Kellner um mich rum, sondern nur eine nette Frau und das Essen ist auch gut. Vorneweg eine Fischsuppe, die aus der Terrine in den Teller kommt, was ich eine schöne Geste finde und dann, zum Mitschreiben, geschmorte Kalbsbäckchen in einer mit Orangensaft und Weißwein abgelöschten Sauce. Dazu die unvermeidlichen Pommes. Aber aus diesem ja oft schweren Schmorgericht, mit Weißwein, statt Rotwein und Orangensaft, statt Sahne oder Butter einen sommerlichen Genuß zu machen, ist toll. Chapeau. Als Postre habe ich wegen der Vitamine Obst bestellt und mit einem Apfel aus Südtirol und einer Banane unbekannter Herkunft das große Los gezogen. Hauptsache gesund. Dazu istmir dann schon wieder der Weiße vom Herrn Martinez kredenzt worden. Manche Winzer haben es einfach drauf, die Gastronomie der Region unter ihre Fuchtel zu kriegen. Egal, der Wein schmeckt ja. Um zehn Uhr betritt dann doch noch jemand den Saal, aber das wars dann wohl für heute. Oder kommen die alle erst um elf? Das halte ich aber nicht durch. Ich muß mal mittags ausführlich Essen gehen, dann vorschlafen, um mal zu erleben, wann denn die Post abgeht. Heute nicht mehr. Morgen ist ja auch noch ein Tag. 

83. Etappe: Logroño- Najera

Logroño liegt am Rande der Region Rioja, weshalb es heute also mittenrein geht, ins Weingebiet. Ich bin gespannt und um halb neun auf der Straße. Der Weg verläuft rasch aus der Innenstadt und wird intelligent über einen Grüngürtel Richtung Naherholungsgebiet geleitet. Das ist echt eine Superidee, was übrigens auch die Hälfte der Einwohner findet, die sich zwecks Fitness und Gesehen werden, bzw. wegen Gesehen werden und Hund Gassi führen ebenfalls auf dem Weg befindet. Dann wirds aber irgendwann ruhiger und ich habe das Stadtgebiet hinter mir.

Es eröffnen sich tolle Blicke auf Weingärten vor Bergen zwischen Kornfeldern und ich bin ganz angetan. Als ich von einer hyperaktiven Frau angesprochen werde, die mir einen Zettel in die Hand drückt, weiß ich, daß ich mich Richtung Navarrete bewege und die Pause ansteht. Das wird heute eine integrierte Frühstücks- und Mittagspause sein, weil es auf dem Weg sonst wenig gibt. Passt aber. Zufälligerweise ist Markt, ich kriege ein nettes Plätzchen im Marktcafe und kann dem Treiben zugucken. Navarrete ist auch so ein Bergdörfchen und hatte früher bestimmt auch Schutzfunktionen, wie die Bastides im Midi. Auf jeden Fall hab ich das Gefühl, daß die ganze Gegend im Dorf eingefallen ist, um einzukaufen. Mächtig Trubel und Zeit weiterzugehen. Nicht ohne noch eine Situation zu erleben, die mich an die Gespräche in Logroño erinnerte. Ein reichlich tüddeliger alter Mann hatte auf dem Markt wohl ein paar Sachen besorgt und war Glaubens sich mit einem Bier belohnen zu können. Das hat er auch runtergekriegt, aber beim Aufstehen, hats ihn wieder in den Stuhl gedrückt. Und dann ging das los. Leute die ihn kannten, sprachen ihn quasi sofort an, rückten den Stuhl aus der Sonne und irgendwann nahmen in zwei Leute am Arm und brachten ihn zu einem Auto, in dem die Hyperaktive sitzt, um ihn nach Hause zu fahren. Vielleicht sind die alle verwandt, ich denke aber, daß es eine Art dörflicher Solidarität gibt, die zwar professionelle soziale Arbeit nicht ersetzt, aber deren Fehlen kompensiert. Das gibt es sicherlich auch bei uns, in Dörfern und gewachsenen Kiezen, nicht aber in Neubaugebieten und Schlafstädten.

Ich breche auf und es geht eine Zeitlang wenig lauschig an der A12 entlang, die sich durch den spanischen Norden windet und dabei mas y menos dem Camino folgt. Das ist verständlich, weil die Metropolen des Nordens eben vor 1000 Jahren wie heute auf diesem Weg liegen, aber schön ist das nicht. Dann laufe ich in den Zielort ein und checke erst nach Zeltaufbau und Ruhen, daß der Ort gar nicht hässlich ist, sondern ich noch nicht geschnallt habe, daß der Hauptort auf der anderen Flußseite ist. Also rüber gemacht und einen schönen Marktflecken mit mittelalterlichen Gäßchen entdeckt. Am Fluß gibts einen Grünstreifen, der genug Ruhe fürs Telefonieren, schreiben und Newschecken bietet. Daß es die Miriam Pielhau mit 41 erwischt hat, greift mich an. Erstens weil das in den schlappen drei Monaten der dritte Mensch ist, den ich irgendwie kenne, den dieser Drecks-Krebs angreift und zweitens hat die mich vor 100 Jahren mal sehr nett interviewt und dieses den Menschen zugewandte und Professionelle ist mir immer in Erinnerung geblieben.

Nachdenklich beginne ich mich um mich zu kümmern, was gut Essen und Trinken bedeutet. Mir war da schon ein Resto aufgefallen und ich blieb bei dieser Wahl. Es gab vorneweg eine weiße Bohnensuppe mit Chorizo und Piment. Echt erstaunlich wie man diese in Deutschland doch manchmal dumpf daherkommenden weißen Bohnen mit ein wenig Piment und Paprika zu einem echten Hit werden lassen kann. Als Hauptgang gab es Wachtel aus dem Ofen mit lecker geschmorten Gemüse inklusive Kartoffeln. Ich mag es, wenn Kartoffeln wie Gemüse behandelt werden. Dazu Weißwein aus Rioja, und zwar aus einem Ort, den ich morgen streife. Ein lecker Schoppen war das, vom Herrn Florentino Martinez. Danach werde ich müde, gehe zurück zum Campingplatz und lege mich nachdenklich hin. Zwischendurch frage ich nämlich schonmal, ob das richtig ist, was ich tue. Mich einfach mal rausziehen. Aber nach so Tagen wie heute, habe ich die Gewissheit, daß wir den Tag, den wir heute leben, eben immer nur einmal leben können und dann hat der doch schön und für uns zu sein. Mit dem Gedanken will ich einschlafen. Gute Nacht.

82. Etappe: Los Arcos – Logroño

Am Morgen geht es früh los, weil 29km zu bewältigen sind, aber wider Erwarten sind nicht viele Wanderer unterwegs. Mir solls recht sein. Es ist auch etwas kühler wie gestern und bewölkt hat es sich auch. Zum Wandern ist es also recht angenehm. Heute geht es von Navarra nach Rioja, dem wohl bekanntesten Anbaugebiet Spaniens. Zielort ist Logroño, die Hauptstadt der Region und Universitätsstadt. Ich werde zwei Nächte dort bleiben, weil ich mir die Stadt seit der Lektüre eines Weinkrimis, der dort spielte, recht interessant vorstelle. Außerdem gilt es auch auf der Spur weißer Trauben zu bleiben, die mit Hitze umgehen können, weil unser deutsches Portfolio von Riesling bis Silvaner ja bei hohen Temperaturen richtig Stress kriegt und da ich denke, daß es im Klimawandel zu Perioden mit hohen Temperaturen und großer Trockenheit kommen wird, gilt es schonmal nach Alternativen Ausschau zu halten. Unterstützung werde ich von einem Freund und Kollegen erhalten, den es nach seiner Verrentung Richtung Spanien gezogen hat.

Aber zunächst geht es durch Weinberge, Felder und Wäldchen flott voran. Zwei Einkehrschwünge für den Mineralienhaushalt führen zu einer echt miesen Erfahrung. Beim zweiten Boxenstopp war mir nach einem Mineralwasser mit Blubb. Dieses stille Wasser aus dem Hahn hängt mir nämlich allmählich zum Hals raus. Und bei dem Straßenverkauf mit Sitzgelegenheit entdecke ich ein Dose auf der was mit Aqua und con Gas steht. Gekauft. Aufgerissen und an den Hals damit. Aber so schnell wie ich die Dose wieder abgestellt habe, habe ich lange nichts mehr abgestellt. Das reinste Zuckerwasser. Ich hatte irgend so einen halbseidenen Energydrink erwischt. Bah, schmeckt das eklig. Da lob ich mir doch Coca-Cola, eiskalt, zumindest hier auf dem Weg. Ich hoffe nämlich, daß sich mein Softdrink-Konsum zuhause wieder runterfahren lässt. Zur Zeit ist mein Kalorienumsatz so, daß ich das verkrafte, vor allem weil ich tagsüber eigentlich auf feste Nahrung verzichte, mal hie und da ein Pintcho, aber das zählt ja nicht. Ab Oktober sitze ich aber wieder an einem Schreibtisch oder sonstwo. Da wäre das fatal. Naja, wird schon klappen, gibt ja dann wieder Mineralwasser mit Blubb.

Mit solch schwergewichtigen Gedanken nähere ich mich Logroño und sehe mal wieder Industrie, produzierendes Gewerbe, was mich echt freut. Es ist natürlich nicht wirklich lauschig durch ein Industriegebiet zu wandern, aber es fühlt sich gut an. Danach geht es bergab durch eine kleine Straße Richtung Innenstadt an der ein ganz besonderer Verkaufsstand Getränke und Souvenirs anbietet. Vor einem kleinen Häuschen sitzt eine alte Frau, die sich mit diesem Stand finanziert, so wie das schon ihre Mutter gemacht hat, die schon 2002 gestorben ist und der mit einer Tafel am Haus gedacht wird. Das wirkt alles mächtig sympathisch und ich beschließe die 29km in sieben Stunden mit einem San Miguel.

Danach geht es in die Unterkunft, duschen und ruhen und los. Zum Busbahnhof, meinen Freund abholen, der aber erst morgen um die gleiche Zeit kommen wird. Stellen wir telefonisch fest. Da haben wir uns wohl mißverstanden. Naja, ziehe ich halt alleine los. Ab in die Altstadt. Menschen, Bars und Läden. Der abendliche Corso beginnt langsam. Man flaniert durch die Gassen, trinkt hier ein Glas, nimmt da ein Pintcho und geht weiter, trifft sich auf einen kurzen Plausch. Alles geht schrecklich laut zu und ich bin nach vier Pintchos satt. Pappsatt. Schön finde ich, daß die zum Pintcho immer nur ein Schlückchen Wein ausschenken und keinen Schoppen, sonst wäre der Abend schnell vorbei. So kann ich weiter cruisen und eintauchen. Ab 21.00h öffnen dann die Restaurants und die Pintchos werden abgeräumt, bzw. nicht mehr nachgefüllt und dann gehen die Leute noch richtig Essen. Das ist der Hammer. Naja, ich hab genug gesehen und geh schlafen.

Morgens schlafe ich aus, ignoriere das Frühstück im Hotel und beziehe einen guten Platz in einem Marktcafe, bestelle Cafe con Leche und Zumo de Narañja und beginne den gestrigen Tag festzuhalten. Diese Kaffeehäuser haben einfach eine tolle Ausstrahlung. Businesspeople und Marktfrauen, die Chicas aus den Boutiquen, die erst um zehn öffnen und Bauarbeiter, die schon um sieben angefangen haben und eine Kaffeepause machen. Mittendrin ich, also weniger mittendrin als in einer Ecke mit guter Übersicht. Schön. Nachdem das Schreiben und Sitzen und Gucken rum ist, wird es auch Zeit zum Busbahnhof zu gehen und den Claus abzuholen, der sich extra meinetwegen auf den Weg aus Donostia hierher gemacht, wo er im Ruhestand seine Zelte aufgeschlagen hat. Ich freue mich und der Bus ist pünktlich. Herzliches Hallo. Nachdem wir sein Gepäck in meinem Zimmer verstaut haben, gehen wir erstmal nen Kaffee trinken, dann am Ebro spazieren, um dann quer durch die Stadt zu laufen. Es gibt zu erzählen und zu diskutieren, nachzufragen, gemeinsam zu beleuchten, was mir nach all den Wochen seit dem Burgund, wo ich alleine unterwegs bin, richtig gut tut. Irgendwann werden wir hungrig und essen eine Kleinigkeit, bevor es weitergeht.

Dann kann Claus in seinem Hotel einchecken, was er dann auch tut und wir wenden uns den angenehmen Dingen des Lebens zu. Eine Weinbar mit einem guten Überblick ist in der Altstadt schnell gefunden und wir fangen bei den einfachen Weinen an. Dazwischen immer wieder ein Pintcho oder Tapas, wie die hier auch schon heißen. Wir führen weiter Gespräche über die Rettung der Welt und merken, daß uns ein junger Kerl die ganze Zeit schon mit zunehmender Aufmerksamkeit zuhört. Wir fragen nach und er entpuppt sich als wiss. Mitarbeiter an der Uni Birmingham, der dort Sozialarbeiter ausbildet und kurz drauf diskutieren wir zu dritt die Rettung der Welt aus der Perspektive der Sozialarbeit im Europa der leeren Dörfer und der überforderten Metropolen. Das ist sehr interessant, weil der Kollege, der übrigens wegen seiner Oma aus Hannover ganz gutes Deutsch spricht, eben auch die methodischen und qualitativen Ansätze einer Sozialarbeit im 21. Jahrhundert und deren strukturellen Rahmenbedingungen einbringt. Gemeinwesenarbeit mit einer einzigen Planstelle wird eben schwierig und schon entsteht Migrationsdruck vom Land in die Stadt, weil nur dort adäquat geholfen werden kann. Es ist ein fulminanter Abend, der mich an beste Studienzeiten erinnerte, wo wir auf theoretisch hohem Niveau die neuen Welten auf einen Bierdeckel brachten, oder ein Flugblatt oder einen Artikel. Zwischendurch spielt auch noch ein Japaner mit, der eine Woche auf dem Camino verbracht hat und seinen letzten Abend feierte. Das konnte er mit einem japanischen Pintcho, weil der Wirt der Kneipe eine japanische Freundin hat, die ihm das Rezept gedrückt hat. Deshalb also mitten in einer Weinbar in Logroño Sushi und ein Japaner, der sich freut. Ich find das schon großartig, das es einen Schlag junger Leute gibt, die echterdings als international zu bezeichnen sind und viel reisen und hoffentlich den Anderen, die höchstens Urlaub machen, beibringen, daß Nation ein Konstrukt ist und wir alle Menschen.

Als es dann aber immer mehr Under30 wurde, haben Claus und Klaus sich verzogen. Wir sind dann in einer Sidreria etwas außerhalb der Partyzone eingecheckt und haben den Wein erstmal mit Sidra neutralisiert, bevor wir -einer Empfehlung der Wirtin folgend- noch Essen gingen. Der Geheimtip entpuppte sich als das Teil, wo alle Vertriebler ihre Kunden zum Essen hinzerren, weils da soooo authentisch ist. Seis drum. Essen lecker. Es gab was zum lästern und wir hatten weiterhin unseren Spaß. Weil man aufhören soll, wenn es am Schönsten ist, gings nach einer herzlichen Verabschiedung dann in die jeweilige Unterkunft. Ein schöner Tag und Logroño war genau der richtige Ort. Super-Weine, coole Bars, nette Leute und Universitäts-/Verwaltungsstadt, also fast wie Würzburg! ☺

  

81. Etappe: Estella/Lizarra – Los Arcos

Das war trotz bestem Wetter einer der schwärzesten Tage auf der Tour. Dabei hatte alles positiv angefangen. Das Zelt war völlig trocken, nicht ein Fitzelchen Tau, so daß der Abbau zügig voranging und ich rasch abmarschbereit war. Vorher noch in der Camping-Bar einen Cafe con Leche und Orangensaft. Und los gings. Ein paar Meter hinter dem Campingplatz fiel mir dann auf, daß ich meinen Wanderhut gar nicht aufhatte. Und auch den ganzen Morgen noch nicht aufhatte, wie die letzten anderthalb Tage. Choder. Also zurück. Alles nochmal ausgepackt, selbst das Zelt und geguckt. Nüschte. An der Rezeption und in der Bar gefragt, ob jemand n Wanderhut gefunden hat. Ebenfalls negativ. Ich war mir aber todsicher am Freitag mit Hut eingecheckt zu sein und den am Samstag auch noch im Zelt gesehen zu haben. Zur Stadtbesichtigung und auf dem Platz habe ich ihn nicht getragen. Ich muß mich wohl damit abfinden, daß sich der treue Begleiter selbständig gemacht hat. Und das macht mich richtig traurig, weil mich das Teil über die Alpen, den Rennsteig und wo weiß ich noch, begleitet hat. Ich bin genervt und stapfe los. Weitergehen muß es ja. Nach zehn Minuten merke ich, daß es ohne Sonnenschutz qua Hut gar nicht geht.

Woher nehmen? Ersatz für diese schmucke Kopfbedeckung zu finden wird reichlich schwierig und außerdem hilf auch keine Meditation zum Fetischcharakter der Ware und sonstige Rationalisierung. Ich bin traurig, daß das Teil weg ist. Ich habe es gern gehabt. Das ist doof, weiß ich, aber ich kann da gerade nix machen. Auf dem Weg durch Estella hat eine Camino-Boutique schon geöffnet, aber die Wanderhüte sind alle mit Camino-Emblem und völlig daneben. Also weiter. Und wieder mal erweist sich eine subkulturelle Vergangenheit als echte Überlebenshilfe. Eine große 24h-Tankstelle kommt in Sichtweise, und wer an diesen Konsumtempeln nicht nur getankt hat, sondern auch das Sortiment im Auge hat, weiß, daß sich dort alles findet, was man im zumeist urbanen Dschungel braucht. Halleluja. Ich betrete den Laden und sehe, das es einige Sonnenhüte gibt. Darunter auch einen, der halbwegs geht. Halbwegs. Acht Euro abgedrückt und dem Hitzetod durch Sonnenstich entronnen. Prima. Meine Laune bessert sich millimeterweise. Ich begieße dIe Neuerwerbung mit einer eiskalten Cola, ebenfalls von der Tanke und beruhige mich weiter, indem ich google, ob es den meinen alten Hut noch im Sortiment gibt. Der ist bzw. war nämlich von einem Markenhersteller aus dem Hutfachgeschäft. Und siehe da. Natürlich gibt es den noch. Dann gibt es im Oktober einen Neuen und die untreue Tomate soll woanders glücklich werden.

Nun rückt langsam diese fantastische Landschaft wieder in den Vordergrund, die sich je weiter ich nach Westen gehe, immer sanfter darstellt. Das Raue der Berge weicht geschwungenen Hügeln und die Farben wirken im Zusammenspiel von Sonnenschein und klarer Sicht noch intensiver. Bei Villamayor de Montjardin gibt es nochmal einen Aufstieg, der mit einer fantastischen Panoramasicht belohnt wird. Das ist hier wirklich ein herrlicher Fleck Erde.

Am späten Nachmittag erreiche ich Los Arcos, einen kleinen Ort mit einem schönen Marktplatz für die Touristen und einem Nebenplatz, wo sich die Einheimischen tummeln. Ich beziehe aber erstmal die Unterkunft und mache Siesta. Die laufen mir schon nicht weg. Als ich abends los will, informiere ich mich beim überaus netten Rezeptionisten nach einem authentischen Restaurant und er bedauert überaus, daß sein Favorit Sonntags zu hat. Ich auch. So geht es also Richtung Marktplatz, wo ich kurz mit einem Engländer und seiner mexikanischen Lebensgefährtin plaudere, die ich vor ein paar Tagen schonmal kurz gesprochen habe und den schweizer Maroniverkäufer treffe ich auch wieder. Irgendwie kann man sich auf diesem Weg schlecht aus dem Weg gehen, aber ich will schon zusehen, daß da nix zu eng wird. Was da die Camino-Gerüchteküche von Dramen zu erzählen weiß, die nach Trennungen von Leuten passieren, die nur drei Tage zusammen gelaufen sind, ist der Hammer. Naja, neben Selbstoptimierern und Studis aus aller Welt sind eben auch sackweise Leute unterwegs, die schonmal zum Töpfern in der Toskana waren oder andere Angebote aus dem Markt der Lebenshilfe ausgeschöpft haben. Und da kann es halt schonmal anstrengend werden. Deshalb heißt es von meiner Seite aus weiterhin: vornehme Zurückhaltung bis hin zur blassierten Distanz!

Ich hock mich aber zum Maroni-Dealer und esse mit ihm zu Abend, was Salat, Pommes, Hühnchen heißt, Mich ziehts dann auch rasch auf die Stube. Ein EM-Endspiel im public viewing brauche ich heute abend nicht. Ich gehe also und beschließe den Abend mit einem nicht ganz freiwilligen Gedanken an den Hut… Oh Fetischcharakter der Ware. Blöd.

80. Etappe: Puente-la-Reina – Estella/Lizarra

Nach dem langen Marsch und San Fermin gestern, gings heute gemächlich los, vor allem auch, weil sich das Frühstück, nach vielen Wochen petit dejeuner fast üppig ausnahm. Gekochter und roher Schinken, regionale Käse, Rührei und Würschtle, sowie Speck, Joghurts und Obstsalat, sowie frisch gepresster Orangensaft. Dazu Brot und Süßgebäck, sowie das übliche Marmeladen-Plastikzeigsl. Und ich habs probiert. Hab mir gesagt, mal wieder frühstücken. Toll. Nix. Ich hab zwar alles mal probiert, aber das die Lust am üppigen Frühstück zurückgekehrt wäre, kann ich nicht sagen. Mal gucken, wie das daheim wird.

Nachdem ich gestern nur noch bis zum Ortseingang gekommen bin, guck ich mir das Städtchen heute genauer an. Schön. Pittoresk. Hier ein Foto, da ein Bild und dann will ich auch schon weiter. Hinaus in diese Landschaft, die mir so nahe scheint. Ich summe Lieder des spanischen Bürgerkriegs und schreite voran. Alte Dörfer, auf Hügeln als Wehrdörfer gebaut, sind einladend und wirken wie aus der Zeit gefallen. Naja, auch hier ist die Zeit nicht stehengeblieben und ich werde bei der Einkehr mit Hallo begrüßt. Der Typ sieht aus wie ein hängengebliebener Deutscher, aber er winkt ab und sagt nur: „Deuter – Aleman“. Weiß ich das also auch. 

Als der Weg weiter Richtung Estella geht, aber ein Wegweißer nach links auf den Camping hinweist und die Nachfrage bei googles ergibt, daß es zum Camping schlappe 900m sind, gehe ich links. Hoch die Hände, Wochenende. Ein vier Sterne-Campingplatz mit Bar und Restaurant und Piscine und Waschmaschine und Lädchen. Herz, was willst du mehr? Das Ding ist so ein richtiger Platz, wie er auch an der Bigge stehen könnte. Viele Stammgäste mit Jahresverträgen und das bißchen Kroppzeug an Einmal-Übernachtern kriegen wir auch verarztet. Ich also Kroppzeug und deshalb Platz P28. Naja, egal. Zelt aufgebaut, Wäsche gewaschen und das Schwimmbecken angeschaut. Danach wieder zum Zelt, einfach mal dumm geguckt und dabei eingeschlafen. Macht man eh zu selten, dumm gucken. Einschlafen geht ja meistens.

Irgendwann kriege ich Hunger und ziehe mich mal abendtauglich an. Dann gehe ich in den Bar/Restaurantbereich des Campings und muß mir klar werden, daß ich in Spanien bin. Vor 20:30h keine warme Küche. Oh my God, ich werde verhungern. Oder wie anscheinend alle anderen Menschen auf diesem Platz die Zeit zwischen sieben und halbneun mit Chipsen und Nüssen verbringen. Nüsse und Sidra. Als Aperitiv muß das schicken. Als ich um Punkt halbneun nach der Speisekarte frage, kriege ich die auch und wähle. Tja, dann müßte ich wohl ins Restaurant. Dazu zückt der Kollege einen Schlüsselbund und schließt mir die Tür auf. Dann hockt ich da, in einem Resto für gut 150 Leute, alleine an einer Glasscheibe und werde das Gefühl nicht los, daß alle Leute auf der anderen Seite chipsessender Weise denken: „Oh guck mal, der arme Kerl, der ißt so früh, wie will der denn durch die Nacht kommen.“ Mir eigentlich egal, aber da ich nun noch fast zwei Monate hier bin, muß ich mir da wohl was einfallen lassen. Naja, und morgen ist ein neuer Tag und ich bleibe eh hier, weil ich ja gestern diese Doppeletappe hingelegt habe und am Montag in Logrono verabredet bin. Deshalb geht es hier erst Sonntag weiter.

Und jetzt werde ich den Teufel tun und schon ins Bett gehen. Ich will wissen, wie das gleich im Speisessaal aussieht. Im Fernsehen läuft ein Pelota-Tounier, was wohl auch zu San Fermin gehört und ähnlich wie beim Rugby sehe ich keine Regeln, aber die CamperInnen wissen Bescheid. Gegen halb elf betreten die letzten Leute das Resto und bestellen mit großer Selbstverständlichkeit ihre Raciones. Bewundernswert. Bewundernswert auch deshalb, weil ich mich nun drauf einstelle, daß hier vor halb zwei kein Schlaf zu finden sein wird. Pustekuchen. Ab halb zwölf liegt alles in der Pofe oder ist zumindest so leise, daß es mich nicht stört.

Das verhilft mir zu einem langen Schlaf und Spaniens Himmel, der tatsächlich seine Sterne ausbreitet und es mal nicht regnet. Schön. Ich werde gegen halb acht wach, bleib aber noch liegen und gehe erst später frischgeduscht und rasiert zum Frühstück, das aus Cafe con Leche und Zumo de Naranja, also Orangensaft besteht. Dabei fällt mir auch auf, daß mir so ganz langsam die ein oder andere Vokabel wieder einfällt, die in den vielen Anläufen Spanisch zu lernen mal hängengeblieben sind. Das ist schön, macht es doch das Leben hier leichter, wenn ich den Service nicht mit der Frage nach Mangare nerve, sondern nach Comida frage. Auf jeden Fall guckt der nicht mehr ganz so unverständig. Naja, seitdem ich im Freistaat wohne, ziehts mich eher über den Brenner, während in Siegen Frankreich/Spanien die Ziele der Wahl waren. Das ist ja im Prinzip auch richtig so. Wenn es nur um Urlaub geht, sollte man sich bei der Anreise keinen Stress machen und ressourceneffizient reisen. Fliegen geht eh eigentlich gar nicht. Eigentlich.

Eh. Egal. Frühstück beendet und ab in die Stadt, deren Name ja an ihre strahlende Wirkung erinnert und die einer der ersten touristischen Coups an diesem Jakobsweg war. 1090 entschied sich nämlich der König von Navarra dazu den Jakobsweg ein wenig umzuleiten, ließ ein unangenehmes Kloster dadurch ausbluten, ließ eine Burg und eine prächtige Kirche bauen, siedelte Franzosen an (Sprachkompetenz… Man spricht deutsch, you know…) , und nahm die Steuern auf Übernachtung und Verköstigung gerne ein. Ich war deshalb schon sehr gespannt, welche Pracht mich da erwartet. Und tatsächlich stellte sich die Stadt auf der linken Seite des Rio Ega, wenn man denn auf dem Weg läuft, tatsächlich recht pittoresk und eindrucksvoll dar. Nett, hatte ich aber schon und als Ensemble auch schöner und in der Verbindung und Mittelalter und Moderne gelungener in Erinnerung. Um nämlich im 21. Jahrhundert anzukommen, muß ich den Fluß überqueren und das Gefühl, was mich vorher schon beschlichen hatte, verstärkte sich. Nämlich selbst auf der mittelalterlichen Seite der Ciutad waren viele Läden geschlossen, auf der modernen Seite ging das konsequent weiter. Also bin ich hin zum Tourist Office und hab gefragt, ob hier jetzt wegen San Fermin oder so alles zu hätte? Nönö, so ab 10Uhr wären die Geschäfte in der shopping zone schon offen. Ok. Ich also los, erstmal noch n Cafe getrunken und abgewartet, was passiert. Wenig. Ich sah zwar auch Leute in Tracht, die anscheinend Richtung Pamplona unterwegs waren, aber das Geschäft wollte sich nicht wirklich beleben. Bis mir das nette Schild auf einem Fischgeschäft den richtigen Tip gab. In Spanien sind nun auch Ferien.

Das merkte ich sehr intensiv, als ich nach einem Bier und ein paar Pintchos wieder auf dem Campingplatz eincheckte. Nachdem anscheinend gestern nur die Vorhut schonmal da war, kam heute der Rest der Corona. Überall großes Hallo und Reparatur- und Aufbauarbeiten, sowie ein vollständig belegter Swimmingpool. Ich fand das nett, aber irgendwann war es mir zuviel und ich verzupfte mich in meine Parzelle. Passte auch. Siesta. Isomatte ausm Zelt und den Krimi weiterlesen, bis einem die Augen zufallen. Als ich dann mit meiner Liebsten telefoniere, taucht ein Radfahrer auf, der auf Schwäbisch „Alemania“fragt. Ok, die Richtung nach Hause hätte ich im gerne gezeigt. Das ich am Telefonieren war, hat ihn nicht gestört, aber als er sein Fahrrad dann abstellte und begann den Platz auszumessen, musste ich auflegen. Was das denn werden solle? Ja hier wäre doch Platz. Ich hab dann die schwäbische Karte gezogen und gesagt, dess dess mei Parzelle wär für die i bezahlt hädd, und ich nicht wüßte, was er hier wollte. Ah. Parzellen. Richtig, die vergeben hier Parzellen. Sucht euch ne freie Parzelle und verpisst euch. Ich war echt geladen.

In dem Zusammenhang mal kurz ein paar Gedanken zu Kategorien, die mich nun schon länger begleiten. Es geht um vornehme Zurückhaltung und Umsichtigkeit. Vornehme Zurückhaltung ist eben mehr als sich beim Buffet den Teller nicht zu voll zu machen. Vornehme Zurückhaltung heißt auch, dem oder der anderen gute Gründe für sein Handeln zu unterstellen und wenn da jemand Waschsalon und Handtuch auf getrennte Haken hängt, dann ist halt kein Haken mehr frei. Oder wenn jemand seinen Rucksack dahin gestellt hat, stelle ich den nicht davor, weils ja dem oder der anderen dann schwieriger macht wieder an seinen Rucksack zu kommen. Mit dem Konzept vornehmer Zurückhaltung nehme ich also eher einen Nachteil in Kauf, als mich aufzudrängen. Das Vornehme an dieser Zurückhaltung kommt dabei nicht aus Demut, sondern aus dem Wissen um sich selber, seinem eigenen Wert. Umsicht ist etwas, was daraus folgt. Umsicht kommt von Umsehen, eine Situation in Gänze zu überblicken und in ihrer Komplexität zu verstehen, was eben auch heißen kann, jemand anders den Vortritt zu lassen oder jemandem zu sagen, wo er lang laufen soll. Das hat dann was mit Führung zu tun, was aber gerade nicht hier hin gehört.

Die haben sich dann auch anhand vor Rechnung und Lageplan davon überzeugen lassen, daß das so ist und sich ihre Parzelle gesucht. Schön. Die Campingplatzcrew macht es sich an der Stelle nämlich einfach. Soundsoviel freie Plätze, soundsoviel freie Camper. Platz voll. Wer da wo zeltet, kann denen ja auch egal sein. Niemals mehr messen, als gemessen werden muß. Ich war natürlich in meiner Siesta blöd unterbrochen und widmete mich deshalb meinem Nachmittagsprojekt. Geräte aufladen. Mit einem Zelt unterwegs zu sein, heißt nämlich immer nach ner Steckdose Ausschau halten. Und die gabs in der Campingbar ganz hinten, wo jemand ne Doppelsteckdose angebracht hatte, aber nur eine belegt war. Hatte ich morgens schon gesehen, der Platz war frei und ich dahin. Super. Weshalb der Platz frei war, wurde mir auch schnell klar. Das war der Pustepunkt der Klimaanlage, also leichter Wind von schräg oben.

Das war alles zu ertragen, hab ein wenig gelesen, ein wenig was geliked, als die Tür aufging und die beiden Schwaben die Bar betraten. So  und nu. Ich hab dann mal runtergeschaltet und Hallo gesagt, ob sie jetzt angekommen seien und sie haben ihrerseits drauf erwidert, das mit den Parzellen hättense nicht gecheckt. Und hab mich bei die gehockt und wir haben n Bier zusammen getrunken, die deutsche Form des Friedenschlusses. Nun ja, der Metzgermeister war nett und der distanzlose Typ war beim Daimler. Meiner vorhin dargelegten Wertschätzung für vornehme Zurückhaltung und Umsichtigkeit ist an der Stelle wenig hinzuzufügen, außer evtl. die bissig Bemerkung, daß die organisierte Arbeiterbewegung in Deutschland eben auch aus den Arbeiterbildungsvereinen und Lassalles ADAV entstanden ist. So. Basta.

Nachdem ich mich von den Beiden verabschiedet hatte und mich abendfein gemacht habe – lange Hose, halbwegs frisches Hemd und Haare gekämmt- wares auch schon halb Neun. Abendessenszeit. Heute mach ich nicht den Fehler im Restaurant essen zu wollen, sondern bestelle patatas bravas und ein bocadillo. Da ist jetzt wenig Salat bei, aber ich hab heute schon zwei Nektarinen gegessen. Gesunde Ernährung? 50 Punkte. Stimmung in der Kneipe? Unbezahlbar! Im Fernsehen läuft die San-Fermin-Berichterstattung, es gibt immer wieder Begrüßungsszenen von Nachbarn für sechs Wochen und Leute, die nach einer langen Anreise auch Bocadillos essen. Eben das pralle Leben. Das wiederum auch ein wenig distanzlos ist, aber ich habe ja mein Platz im Eck mit der Steckdose wieder ergattert und sitz hier schreibenderweise, während im Fernsehen jetzt ein Chorwettbewerb läuft. Alle in Tracht und die Kneipe kommentiert genauso lautstark, wie beim Stierrennen oder beim Pelota. Hm… Zeit ins Bett zu gehen. Heute verstehe ich das wohl nicht mehr…

79. Etappe: Zurinain – Puente-la-Reina

Ich war bereits um Viertel vor Acht Richtung Pamplona unterwegs, weils mit sechs Leuten in dem kleinen Zimmer nicht auszuhalten war. Pamplona wird der Mega-Boxenstopp auf der heutigen Etappe. In Pamplona wird nämlich jedes Jahr ab dem 6. Juli San Fermin gefeiert, weil das der Stadtpatron ist und heute haben wir den 7., also ist die Fiesta in vollem Gange. Ernest Hemingway hat mit seinem gleichnamigen Roman dieses Fest weltbekannt gemacht und für viele Amerikaner ist es ein must have einmal dabei gewesen zu sein. Ich dagegen war nicht scharf drauf mit den Stieren um die Wette zu rennen, weshalb ich gegen halb Zwölf, wenn die Rennerei gelaufen ist, in Pamplona eintrudeln will. Hab ich auch geschafft. Nach dreieinhalb Stunden bei bestem Wetter durch ein Meer von Beige und Brauntönen, die mit dem satten Grün von Weinbergen und Wäldern harmonieren, kam ich in die ersten Vororte. Ausgestorben. Alle Schotten dicht, nur hier und da hatte eine Bar auf und es huschten Männer und Frauen ganz in Weiß mit roten Halstuch und roten Gürtel durch die Gassen. Aufgeregt. Whole town in panic.

Dann passierte ich das Ortsschild unter dem ein ebenso großes Schild verkündete, daß die Stadt keine sexuelle Aggressionen toleriert. Sowas würde ich mir ja mal fürs Oktoberfest wünschen, wo man doch eher versucht alles kleinzureden und zu vertuschen, was an sexuellen Übergriffen bis bin zur Vergewaltigung so alles vorkommt, Jahr für Jahr. Da scheint Pamplona einen offensiveren Umgang mit dem Thema zu pflegen. Je näher ich dem Stadtzentrum kam, desto mehr Menschen sah ich in Tracht und desto häufiger war die baskische Fahne gehisst, politische Transparente über die Strasse gespannt und die Stadt entsprechend plakatiert. Ein reichlich großer Bierstand war mit ökologisch, antikapitalistisch und antisexistisch überschrieben. Ob der Stand so groß war, weil das komplette politische Programm dargestellt werden sollte, ob der ob das sich so ergeben hat, blieb unklar. Ist auch egal. Aber das so eine große Veranstaltung, ein Volksfest zur Bühne fortschrittlicher, gar linker Politik werden kann, ist schon ein Unicum der politischen Kultur im Baskenland. Vielleicht geht sowas noch in Rojave. Es war auf jeden Fall schön, das zu sehen. Und all die tanzenden und singenden Menschen, die sich auf den großen Festzeug freuten. Besoffene hab ich keine gesehen, obwohl alle n Bier, n Wein oder Sidra in den Händen hatten. Dem konnte ich mich nicht entziehen, stellte mich in einer Bar an die Thekr, bestellte ein Bier und habe die ersten Pinchos meiner Wanderung genossen. Kunstvoll geschichtete Leckereien mit allem Möglichen. Basis ist in der Regel eine Brotscheibe auf die in gewagten Konstruktionen und Kombinationen alles kommt, was schmeckt. Herrlich. Ich ließ mich weiter durch das Geschehen treiben und fand daran Gefallen. Das hatte -vielleicht muß ich mir dieses Stierdingens doch mal angucken- sowas Archaisches, sowas Ursprüngliches und trotz der ganzen Touris und mir nichts Gekünsteltes, sondern das Tragen der Tracht, also weiße Klamotten, rote Accessoaires ist ja kein Dirndl-Kram von 50 bis 5000 Euro, sondern funktioniert mit ner Malerhose genauso wie einer weißen boss-Jeans, hat also an sich etwas zutiefst Nivellierendes. Ich kauf mir auch so ein rotes Halstuch und empfinde meinen Rucksack zum ersten Msl nach langer Zeit als störend. Mit dem Teil am Rucken flutschst du halt nicht mal eben durch ne Menschenmenge, sondern musst aufpassen, daß du mit den Stecken, die ich am Rucksack festgemacht habe, um die Hände frei zu haben, keinem wehtust. Manche Wanderer sehen das anders und mal wieder ist fremdschämen angesagt. Dir haben einen Plan, einen Rückflug ab Compostelle für kleines Geld schon gebucht und müssen heute dadurch. Die Pissnelken. Das hier, das ist das pralle Leben und weil es eben ein Leben ist, das auch politisch in meine Richtung tickt, wünsche ich mir meine Bande, um das richtig genießen zu können. Es ist nämlich doch etwas anderes alleine über so ein großes Fest zu ziehen, zu sehen, zu schmecken und zu beobachten, als mit guten FreundInnen dabei zu sein. So gucke ich mir das halt mehr an und freue mich, daß der Raul Zelig -sehe ich abends auf fb – dieses Fest ähnlich wahrnimmt. Und worüber ich mich noch mehr freue ist die Tatsache, daß wir mit diesem roten ersten Mai in Siegen so etwas Ähnliches doch recht erfolgreich etabliert haben. Ok, es gibt keine Tracht, außer dieses lebhafte und nivellierende Schwarz ☺, aber ansonsten ist dieser Ansatz Volksfest plus linke Inhalte seit mehreren Dekaden erfolgreich. Ich steh an einer Ecke und überlege, ob wir beim nächsten ersten Mai die FleischesserInnen von ein paar VeganerInnen durch Siegens Altstadt jagen lassen sollten, um das noch cooler zu machen. Ich verwerfe den Gedanken aber sofort wieder. 

Nach zwei Stunden packt mich dann doch die Unruhe und ich ziehe weiter,obwohl ich mir den Umzug gerne angesehen hätte. Ein anderes Mal. Rasch ging es durch das Universitätsviertel wieder aufs Land, was auch heißt, das es mit geeigneten Unterkünften nicht so ganz einfach ist. Landschaftlich ging das Farben- und Panoramaspektakel vom Vormittag weiter und weil ich von San Fermin, der Landschaft und Allem reichlich guter Dinge war, ging es immer weiter bis ich in Puente la Reina war und ich merkte, daß ich heute locker zwei Etappen zusammengelegt habe. Kommt vor. Ich war dann aber auch brotfertig und froh ein günstiges Hotel gefunden zu haben, in dem ich auch Essen konnte. Dazu traf ich einen alten Bekannten, einen Rose aus dem Hause Inurieta, einem Winzer der aus Puente la Reina stammt und auch in Deutschland zu haben ist. Ein echt lecker Stöffche. Den Rest der Flasche nahm ich mit aufs Zimmer und war dann froh, daß nach neunzig Minuten mit Fußball Schluß war und ich das Licht ausmachen konnte.

78. Etappe: Roncesvalles – Zuriain

Ich werde gegen halb sechs wach, gucke aus dem Fenster, sehe eine weiße Wand und denke mir, ihr könnt mich mal. Dann lege ich mich gepflegt wieder hin und nehme das Tagewerk erst gegen acht Uhr wieder auf. Nachdem ich nämlich gestern schon nix von der Landschaft hatte, will ich der Sache heute eine Chance geben. Also zivilierte Morgentoilette inklusive Rasur, dann zum Frühstück, was nach dem petit dejeuner der letzten Monate schon fast üppig war, weil es zwei Scheiben Käse und zwei Scheiben gekochten Schinken gab. Dazu eine Orange und eine Nektarine. Leider keinen Joghurt, aber ich kann nunmal nicht alles haben. Lecker wars und ich um Neun auf der Straße. Der Nebel löste sich langsam auf und hing dann nur noch zwischen den Bergspitzen und wurde von der steigenden Sonne angestrahlt. Das war schon herrlich anzuschauen und als sich auch der letzte Rest in Wohlgefallen aufgelöst hatte, war es ein wolkenloser Sommertag wie er sein soll. 

Da es mein erster Tag nach dem Grenzübertritt war und dieser Camino Frances ja der Hotspot unter den Jakobswegen, und das nicht erst seit Hape Kerkeling, ist, war ich auch gespannt, wer mir da alles vor die Füße fällt. Und ich war überrascht. Zunächst mal nämlich niemand, weil die alle schon weg waren. Vielleicht werden die alle nach der Frühmesse um Sieben aus der Herberge gekehrt und müssen los. Damit hatten die fast zwei Stunden Vorsprung und ich meine Ruhe. So nach und nach begegnete mir dann doch das ein oder andere Grüppchen und ich konnte mal ein wenig gucken. Empirische Befunde sind das jetzt auch nicht, aber mal soviel. Das Publikum wird jünger, was insbesondere an den spanischen KollegInnen liegt, die den Weg -hm, wie sag ich das denn jetzt???- als lange Drosselgasse oder Wanderwellness oder Saisonabschlußfahrt oder Abiabschluß-Gedöns mit günstigen Unterkünften links und rechts inklusive internationalem Publikum nutzen. Nix dagegen einzuwenden, es wird halt nur lauter -die quatschen in einer Tour- und a weng mehr Laufsteg ist auch, weil hie und da Tesosteron und Östrogene in der Luft hängen. Ihren Beitrag dazu leisten auch All American Boys and Girls für die ein paar Tage auf dem Camino zum Eurotrip dazugehören, bevor sie zu San Fermin den Hemingway in Pamplona geben. Dann gibt es Einzel- und Gruppenwanderer, zumeist ältere Semester, denen das Ernst ist bzw. die das mal machen wollen. Hinzu kommen asiatische Manga-Leute, die bei 32Grad mit Handschuhen und Gesichtsschutz unterwegs sind. Einige Italiener sind auch auf dem Weg, aber die treff ich erst später.

Nach ein paar Stunden mit vielen Kurzstopps zum Schuhe nachbinden, trinken und fotografieren laufe ich in den Zielort ein und werde bös von der neuen Quantität des Weges überrascht. Nach drei ergebnislosen Anfragen, ob denn was frei wäre, beschließe ich weiterzugehen. Bis zum nächsten Ort sind das nochmal fünf Kilometer, aber weil es kein offizieller Etappenort ist, kriege ich da sofort was. 10 Euro für n Platz im Mehrbettzimmer, das ich mir mit einem italienischen Pärchen teile. Jaaa, eigentlich gilt der Grundsatz Einzelzimmer oder Zelt, aber von jedem Grundsatz gibt es Ausnahmen. Basta.

Das ist auch ganz in Ordnung, bis auf den Punkt, daß ich keinen Bock habe, dem Pärchen beim Abhängen zuzuhören. Also verzupf ich mich auf die Terrasse und Gut ist. Ich werde das schon überstehen, als kurz vorm Abendessen noch zwei weitere Italiener auf ihren Fahrrädern auftauchen, ein Bier bestellen und ihren Helm nicht abziehen. Ob die auch hier pennen wollen? Im selben Zimmer? Mir schwant Übles. Und richtig. Die pennen auch hier und deshalb gibt es später Abendessen. Ich koche, weil ich Hunger habe und drei Leute ok, fünf Leute in dem eher kleinen Schlafsaal scheiße finde.

Das Abendessen ist dann sehr lecker und sehr italienisch aufgebaut mit Antipasti:Salat, primi piatti: Pasta (mit dieser baskischen Bratwurst), secondi piatti: Schweinemedaillon mit Karottengemüse und Dolce: Creme Catalan. Das wunderte mich nun auch und war sicherlich kein Tribut an die italienischen Gäste, aber die Italienisierung der Speisewelt nimmt wohl auch in Spanien ihren Lauf. Ich werde das weiter im Auge behalten. Mit den vier ItalienerInnen geht es nicht um Fußball, sondern ums Reisen und autochthone Rebsorten, was mir zusagt und wir kriegen auf englisch, deutsch, italienisch sowas wie eine Unterhaltung hin, die zumindest fürs Tischgespräch langt. Also an der Stelle alles gut. Ich geh jetzt mal hoch und guck, ob die tatsächlich auch in demselben Zimmer pennen wie ich. Und wenn, dann würde mein alter Herr wohl sagen „Hütte, Gut Nacht“, dem ich mich anschließen würde.

77. Etappe: Saint-Jean-Pied-de-Port – Roncesvalles

Heute gehts nach Spanien und das ist ein ganz besonderer Schritt, nicht nur weil ich damit nach den Alpen mein zweites europäisches Hochgebirge überquere, sondern weil ich das Gefühl habe, daß eine der Intentionen, die ich mit dieser Wanderung verbinde, zumindest teilweise erfüllt ist. Doch bevor Zeit für große Gefühle ist, muß gepackt werden und angesichts des nächtlichen Regens der erst gegen fünf aufgehört hat, muß ich wohl umdisponieren. Bislang habe ich nämlich den Rucksackinhalt auf der Isomatte gelagert, um dann das Zelt abzubauen und im Rucksack zu verstauen und den anderen Kram dann drumrum zu schichten. Das würde heute bedeuten, daß die Isomatte patschnass wird. Also nix gut. Deshalb geht es darum, den Rucksack im Zelt zu packen, den trocken zu lagern und dann das Zelt abzubauen und am Rucksack zu befestigen. Ich bin kein Freund davon das Zelt außen hinzuhängen, weil dadurch die ganze Chose weniger kompakt wird. Damit kann man hängenbleiben und Sachen können verrutschen. Alles blöd, aber heute geht das nicht anders. Dabei habe ich noch richtig Glück und kann das Außenzelt über der Wäscheleine trocknen, während ich das Innenzelt zusammenlege und den Unterboden beim Zusammenrollen schön Umdrehung für Umdrehung trocken und sauber wische. Irgendwann ist alles getan und es geht los. Wir haben halb Zehn und es klart nicht auf.

Das macht am Anfang nicht wirklich was aus, weil ich das Gefühl habe, das klart doch noch auf und sich lichtender Nebel im Gebirge hat schon auch was. Ich komme aber rasch höher und der Nebel wird dichter. Sichtweite um die zwanzig Meter. Also nicht sooo prickelnd, aber die Wegführung ist gut zu erkennen und ich stolpere auch nicht über die Hape Kerpelings dieser Welt, die sich in einem unangenehmen Fall als Jungingenieure entpuppen, die das wohl machen, weil man das macht und weil es evtl. Credit points zum Kompensieren fehlender Sozialkompetenz gibt. Auf jeden Fall geht es nur ums wie und wo wie billig. Hoffentlich kriegen die niemals Personalverantwortung; diese Sprösslinge einer bürgerlichen Mittelschicht, der das kulturelle und soziale Kapital so vollständig abhanden gekommen zu sein scheint. Ach so, neben billig, geht es immer auch um Präsentationen. Schriftsprache, Memos und Fließtext scheint echt auszusterben. Schade eigentlich. Ich frage mich manchmal, ob die sich in der Schule nicht mit der deutschen Klassik, Heinrich Manns Untertan und alldem auseinandersetzen mußten und jemand denen die universellen Werte hinter den ollen Schinken vermittelt hat. Ich weiß, das ich bestimmt pauschaliere, aber diese vier Typen sind fast Prototypen und da kann man ja auch schonmal den großen Wurf wagen, oder?

Ich überschreite die französisch-spanische Grenze, aber die spanische Zentralregierung stellt kein „Bienvenidos a Espana“-Schild auf, sondern ich werde in der Provinz Navarra begrüßt und ein improvisierter, aber stabiler Aufsteller weist darauf hin, daß ich mich immer noch im Baskenland befinde. Das finde ich ausgesprochen sympathisch, weil ich mich hier schon wohl fühle. Naja, in Spanien bin ich jetzt trotzden, aber das Wetter und das fehlende Espagna-Schild lässt mich nur kurz innehalten und gedenken. Denke an Helden, die sich ohne Smartphone, Internet und Gymnasium nur mit Schulatlanten und Straßenkarten auf den Weg nach Spanien gemacht haben. Das ist mir erst in den letzten Wochen klar geworden, wieviel schwerer es diese Männer und Frauen hatten, nach Spanien zu kommen. Aber sie haben es getan, um mit der Waffe in der Hand gegen Francos Faschisten zu kämpfen.

Ich trage seit Würzburg eine Fahne der zweiten spanischen Republik mit mir. Diese eine Fahne wurde das erste Mal 2014 anläßlich des 70. Jahrestages der Landung in der Normandie von mir und vier Freunden gezeigt, um an die zu erinnern, die nicht nur als Interbrigadisten, sondern bereits ein paar Jahre später wieder in den Linienorganisationen der allierten Armeen ihren Platz einnahmen, um den Faschismus zu bekämpfen. Ich trage sie 2016 anläßlich des 80. Jahrestags des Spanischen Bürgerkriegs mit mir, der von 1936-1939 und viel länger dauerte. Die spanische Republik, die rechtmäßige und gewählte Regierung wurde im Kampf gegen die FrancoFaschisten, die geputscht hatten, von vielen Freiwilligen aus vielen Vaterländern unterstützt, die in den internationalen Brigaden zusammengefasst wurden. Auch aus Deutschland machten sich mehrere 10000 meistens junge Leute, aber auch Veteranen des ersten Weltkriegs auf den Weg und das unter den erschwerten Bedingungen des Hitlerfaschismus in Deutschland. Sie gingen zu Fuß, fuhren Fahrrad oder Motorrad, waren mit der Bahn unterwegs, um der spanischen Republik zu helfen. Und zwar mit der Waffe in der Hand. Ich empfinde einen außerordentlich tiefen Respekt vor diesen Männern und Frauen, die sich unter den Bedingungen der 30er Jahre auf den Weg gemacht haben. Sie haben mit ihrem Engagement das letzte Zeichen vor dem großen Weltenbrand, dem Weltkrieg II, gesetzt, daß die Zivilgesellschaft wehrhaft ist!

Upps, das ist jetzt etwas länger geworden, aber ich hoffe es ist klar geworden, warum mir das mit der Fahne wichtig ist. Wir leben nämlich in Zeiten, in denen die Zivilgesellschaft gut beraten ist, wehrhaft zu sein! Alerta Antifascista! Mit alle dem im Kopf, komme ich in Roncesvalles an. Der Ort hat ein Pilgerhospiz mit 180 Schlafplätzen, wonach mir nach den Jungingenieuren und dem Rest von der Kerkeling-Combo überhaupt nicht ist. Also steigt der Arbeiteradel woanders ab – siebzehn saubere Zimmer über ner Kneipe – duscht und freut sich schreibenderweise aufs Abendessen.Das gibts erst um halb Acht. Da kann ich ja nochmal ein wenig ruhen. Kluger Plan.

Aber der Hunger meldet sich und ich hock mich mit der Schreibwerkstatt in die Kneipe unter mir und bestelle txistorras, das sind baskische Bratwürste mit Piment gewürzt, die im Baguette serviert werden. Paarweise. Fast wie daheim. Und lecker sind sie, dazu ein Bier und der Hunger schweigt. Ich schreibe noch ein wenig, betrachte das Treiben in der Bar und freue mich mal wieder im Baskenland bzw. in Spanien zu sein.Um sieben geht es dann zum Abendessen und ich bekomme einen Schreck. Die 180Betten-Herberge schickt ihre Gäste zum Abendessen auch hierüber und so komme ich neben drei Italienern, einer US-Amerikanerin, einer Marburgerin, einer Engländerin und zwei Norwegern am runden Tisch zu sitzen. Die Verständigung auf Englisch klappt und es wird ganz lustig, vor allem weil das Essen weitgehend ungewürzt und zerkocht auf den Tisch kommt. Salz und Pfeffer ist schnell organisiert, die Qualität italienischer Pasta gelobt und die spanische für untauglich erklärt. Mit der Frau aus Marburg klappt die Verständigung auch auf Deutsch und wir unterhalten uns über die verschiedenen Beweggründe den Camino zu gehen und sie bestätigt – sie ist schonmal den Camino del norte gegangen – die These von den Credit Points, die das Gehen des Weges in Sachen Tiefe und Sozialkompetenz geben könnte. Außerdem gehört es in gewissen Kreisen wohl auch zum guten Ton. Naja, dann…

Nach dem Essen verläuft sich die Tischgesellschaft schnell, mich zieht es allerdings auf einen Absacker nochmal in die Kneipe in der mittlerweile das lokale Publikum die Mehrheit stellt. Ich ergattere einen Platz an der Theke und beschließe den Tag mit einem schönen Rose aus navarra, der eine kirschrote Farbe hat und dunkle Beerennoten im Geschmack verbreitet. Lecker. Es ergibt sich noch ein Gespräch mit einer Frau aus Nebraska, in dem es um den unvermeidlichen Trump, das Wahlsystem in den USA und die Krankenversicherung geht. Ich habe nicht so oft die Möglichkeit mit US-Amerikanern zu reden, weshalb ich das interessant finde. Aber irgendwie ist auch gut für heute und ich verabschiede mich Richtung Cama und finde schnell in den Schlaf.