Gutes Leben, Geiles Leben. Darum soll es im ersten Panel gehen und zu richtigen Einstimmung starte ich langsam und mit dem Morgenmagazin in den Tag. Das Panel selbst startet dann ein bisschen aufgeregt, weil die Wissenschaftlerinnen sich ob der vermeintlichen sprachlichen Vulgarität des Veranstaltungstitels besonders strukturiert geben. Das hatte ein wenig was Groteskes, aber auch das kann ja auch unterhaltsam sein.
Inhaltlich ging es um die schlichte Erkenntnis, das mit dem Appell an die permanente Askese, um das Klima zu schützen und die Welt zu retten, wohl weite Teile der Menschheit außen vor wären und keinen Bock auf irgendeine Form von Transformation entwickeln würden. Folglich ging es darum, was ein gutes Leben und was ein geiles Leben ist und wie die Beziehungen zwischen diesen Leben sich entwickelt haben. Dabei wurde als gutes Leben eine nachhaltige Lebensführung mit Ressourcenschonung, Mülltrennung und Repair-Cafe etc. bezeichnet. Was auf den ersten Blick nach Prenzlauer Berg oder Glockenbachviertel klingt, war bis in die 50er Jahre weit verbreitet und endet in NAWEO (NordAmerika, WestEuropa, Ozeanien) mit der Massenmotorisierung und dem Wohlstandsgewinn für breite Bevölkerungsschichten. Im Zuge dieser ökonomischen Entwicklung verändert sich im politischen Raum auch die sozialstaatliche Zielsetzung. Es geht nun um die Verallgemeinerung und Zugänglichmachung von Konsummöglichkeiten für alle, was vielfach mit Teilhabe verwechselt wird. Umweltpolitik ist in diesem Zusammenhang nichts anders als Legitimierung der Konsumoptionen und Kosmetik an Phänomenen (Kalken gegen Waldsterben etc.).
Schlussendlich fallen gutes Leben und geiles Leben auseinander, weil das geile Leben kulturell leider durchgängig konsumistisch überformt ist. Das treibt in Zeiten wie diesen, wo die Meisten die Notwendigkeit einer guten nachhaltigen Lebensführung durchaus erkennen, aber eben auch ein geiles Leben haben wollen, merkwürdige Stilblüten. Trotz Flugscham und Zugstolz wird so viel geflogen, wie noch nie. Alle reden von einer Reduzierung des Fleischkonsums, aber jeder Dorfmetzger hat nun eine Reifeschrank für Dry Aged Steaks vom Rind!
Das Dilemma liegt auf der Hand und die Frage, die sich stellt, ist halt die, wie gutes und geiles Leben massentauglich synchronisiert werden können. Das ist eine offene Frage, sowohl politisch, als auch wissenschaftlich. Es wurde allerdings erste Befunde und Ideen genannt.
So wäre beispielsweise die Wiederentdeckung des öffentlichen und sozialisierten Konsums ein Weg, d.h. mehr Feste zusammen feiern, als das alle zu Zweit vor ihrem Weber-Grill hocken. Das geht soweit, dass sich die unterstellte entspannende Wirkung des Autoinnenraums als letztem Rückzugsraum des NAWEO-Menschen mit lauter Musik und Mitsingen, ungestraftem Brüllen und Fluchen etc. durchaus auch bei der Nutzung anderer Verkehrsmittel zeigt. Alles eine Frage des Wollens und Machens. Einfach machen. Oder mal nichts machen. Diese Frage löse ich Richtung nichts machen auf und gehe nach dem Thüringer Imbiss schlechthin, der Bratwurst, in die Horizontale.
Nach dieser meditativen Mittagspause breche ich unwillig, aber interessiert zum nächsten Panel auf, das die Sektion der Arbeits- und Industriesoziolog_innen unter dem etwas sperrigen Thema namens „(Wessen) Utopien oder Dystopien der Arbeit? Akteure, Interessen und Effekte von Zukunftsdiskussionen auf die Gestaltung von Arbeit heute“ veranstaltet. Der Titel spricht für sich, was den Zustand der Arbeits- und Industriesoziologie angeht. Finde ich. Es geht interessanterweise nämlich eher um die Betrachtung diskursiver Aspekte als den Versuch eines tiefen Verstehens von dem, was sich da tut, wo es weh tut: am Arbeitsplatz. Konkret!
Da wird es nämlich interessant und Hajo Holst macht da einen klugen Aufschlag, weil er dazu geforscht hat, wie die Transformationsthemen von Digitalisierung bis Klimawandel denn als Konsequenz für die Arbeit in der Automobilindustrie von den Arbeitnehmer_innen aufgenommen werden. Und das Bild stellt sich differenziert dar, was ja nicht überrascht. Die einen sehen Chancen, die anderen haben Angst. Geschenkt. Was interessant und diskutabel ist, dass die Belegschaften es als befremdlich empfinden, dass das Management die Offenheit des Transformationsprozesses thematisiert und dabei das was gerade in Sachen Digitalisierung kommt, als konsequente Fortschreibung bekannter Automatisierungsprozesse mit den bekannten Folgen für die Beschäftigten interpretieren.
Ich stelle mir die Frage, warum es denn problematisch ist, wenn jemand sagt, dass er was nicht weiß? Warum? Suchen die Deitschen immer noch nach dem Allwissenden? Oder ist dieses Zukunftsthema viel zu hoch aufgehängt? All die Plakate mit Future und Digital Transformation und Agility erreichen wohl niemanden, der davon betroffen ist. Also herrscht Schweigen und Misstrauen…
Die schlechte Prognostizierbarkeit transformativer Prozesse, die ja eigentlich auf der Hand liegt, scheint die Arbeitsbeziehungen also zu belasten. Das ist flankiert von der konjunkturellen Eintrübung, die die strukturellen Veränderungen nun teilweise verdeckt. Kein Befund, der Freude macht. Denn was in vielen Branchen und Unternehmen dringend nötig wäre, ist nichts weniger als eine Konversionsdebatte, was denn wie und in welchen Mengen mit welchen Ressourcen produziert werden soll. Eine solcher Prozess wird aber ohne Vertrauen, Beteiligung und Risikofreude nicht auf den Weg zu bringen sein.
Weitere Hinweise darauf, wie sich dieser Prozess gestalten lassen könnte, gab der Beitrag von Martin Kuhlmann und Stefan Rub vom SOFI in Göttingen, die sich genauer mit der betrieblichen Digitalisierungsstrategie und den dahinterstehenden Diskursen befassten. Sie unterscheiden dabei
– den Automatisierungsdiskurs,
– den Überwachungsdiskurs,
– den Wettbewerbsdiskurs und
– den Demokratisierungsdiskurs.
Diese Diskurse überlappen sich teilweise und erschweren so eine rationale Bewertung des betrieblichen Geschehens, so denn niemand der betrieblichen Akteure versucht, die Themen sauber zu differenzieren oder einzelne Aspekte schlicht ignoriert. Damit wäre zumindest ein Baustein für die oben dargestellte betriebliche Misstrauenskultur identifiziert.
Die These belasteter Arbeitsbeziehungen auf der betrieblichen Ebene, mit einem Mangel an Miteinander und einem Zuviel an Misstrauen, einem gefühlten Zeitdruck und dem Fehlen von Spielräumen, sowie eben einer flachen und altbacken auf Technik und Datenschutz fokussierten Diskussion, bestätigt sich in einigen Gesprächen, die abseits von Panels geführt wurden, leider. Da gibt es also was zu tun.
Den Abschluss des Tages bildet ein Vortrag von Andreas Reckwitz, der unter der Überschrift „Klasse als Schicksal?“ zur Drei-Klassen-Gesellschaft der Spätmoderne und dem Aufstieg der neuen Mittelklassen sprach. Die ebenfalls angekündigte Rahel Jaeggi ist leider erkrankt und der Vortrag fällt aus.
Reckwitz entwickelt ein Bild spätmoderner Gesellschaften, dass vier von ihm als Klasse bezeichnete Blöcke kennt: eine wirklich kleine, abgeschottete Oberschicht, darunter eine neue Mittelschicht und eine alte Mittelschicht, sowie ganz unten die Prekarisierten als klassische Unterschicht. Diesen Klassenformationen ordnet er einzelne Milieus aus den Sinusstudien eindeutig zu. Das ist für Reckwitz recht einfach zu machen, weil er seine Formationen aus dem Zusammenspiel von ökonomischen, sozialen und kulturellem Kapital, sowie Wertmustern und Einstellungen und, was ich dann originell fand, aus dem Mix von räumlicher Mobilität und Wohnortwahl konstituiert. Als zentrale Klassenauseinandersetzung sieht er dabei die Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Mittelschichten, die ja mit allen Mitteln geführt wird. Auf der politischen Ebene ist es der Aufstieg der Grünen als der Partei neuer Mittelschichten und dem Stellungskrieg der Partei des alten Mittelstands, der CDU, einerseits und des sozialdemokratischen Kleinbürgertums andererseits. Der Kulturkampf, der derzeit um Klimagerechtigkeit vs. Wachstumszwang tobt, ist ein weiterer Beleg für die Auseinandersetzung um die Hegemonie eines der beiden Lager, wobei die Faktizität des Klimawandels die Ausgangslage der alten Mittelschichten entscheidend schwächt. Dabei geht es bei dieser Schwächung nicht so sehr um sozialen Abstieg, sondern um die soziale Abwertung des eigenen Status. Der Metzgermeister mit drei Filialen ist nicht länger ein angesehener Unternehmer, sondern ein Tiermörder und Klimawandelbeschleuniger. Das kann schon weh tun.
Die Klasse der prekarisierten Unterschicht bezeichnet er als das sichtbare Zeichen dafür, dass der klassische Deal der Industriegesellschaft aufgekündigt ist und sich harte körperliche Arbeit nicht länger in Lohn und sozialer Anerkennung widerspiegelt. Der tränenreiche Abschied des Ruhrgebiets vom Kohlebergbau war auch der Abschied vom Bergmann, der für die Arbeit unter Tage gut bezahlt wurde und geachtet wurde. Einen tränenreichen Abstieg von der letzten Paketfahrerin oder dem letzten Fahrradkurier wird es wohl nicht geben und anständig bezahlt werden diese Beschäftigtengruppen schon gar nicht.
Was kann also passieren? Reckwitz denkt über drei Szenarien nach, wobei in allen die Oberklasse klein und abgeschottet, aber oben bleibt, was ja eigentlich schade ist.
Szenario 1: Die alte Mittelschicht wird kleiner und diffundiert in die neue Mittelschicht. Das Prekariat bleibt gleich groß. Damit ist kulturelle Hegemonie hergestellt, aber die Frage ökonomischer Ungleichheit bleibt unbeantwortet.
Szenario 2: Die alte Mittelschicht wird kleiner, weil sie auch in das Prekariat absteigt und nur ein Teil in die neuen Mittelschichten wechseln kann. Aus der neuen Mittelschicht geraten ebenfalls zunehmend Teile in eine zugespitzte ökonomische Situation und sind Teil des Prekariats. Das Prekariat wird deutlich größer.
Szenario 3: Die alte Mittelschicht verschwindet, das Prekariat wird durch Bildung, Tarifverträge und einträgliche Löhne kleiner und verstärkt die neue Mittelschicht.
Die Reihenfolge der Szenarien ist so zu lesen: Probable, Plausible and Possible! Leider. Und der ganz große Wurf ist ja auch nicht dabei, weil die Frage nach Auflösung der Oberschicht nicht einmal gestellt wurde.
So gehe ich nachdenklich in die FeWo und koche Nudeln mit Paprika-Zwiebel-Tomatensauce und Makkaroni, die ich schon ewig nicht mehr gegessen habe. Dazu einen Sauvignon aus der Region. Der ist jetzt auch Geschichte und ich geschafft von
einem nunmehr dritten Tag voller Inspiration, kluger Gedanken und Diskussionen.