Die Zukunft der Arbeit und die Konsequenzen für die berufliche Bildung

Die Pandemie hat wie im Brennglas gezeigt, dass das Einzige was an der Zukunft von Arbeit sicher ist, ist die schlichte Tatsache, dass sie getan werden soll! Aber über welche Arbeit reden wir überhaupt? Sind es die Kurierfahrer*innen oder die Influencer*innen? Sind es die Kolleg*innen im Homeoffice oder die an den Fließbändern und in den Werkstätten? Sind es die Krankenpfleger*innen oder die Qualitätsmanager*innen in der Altenpflege? In der Pandemie wurde alles erledigt und ist doch anders geworden. Die einen wurden beklatscht, die anderen haben Arbeit und Leben integrieren gelernt und die anderen haben weiter Autos produziert, wenn sie nicht in Kurzarbeit waren.

Im Folgenden soll der Frage nach der Zukunft von Arbeit nachgespürt werden, indem Unterschiede und Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Tätigkeiten genauso betrachtet werden, wie die allgemeinen Trends die das Bild von Arbeit in den nächsten Jahren prägen werden. Schlussendlich soll das in Überlegungen zu den Konsequenzen für Struktur und Inhalt beruflicher Bildung münden.

Die Perspektiven zukünftigen Arbeitens werden zentral durch alle Facetten der digitalen Transformation geprägt. Das bedeutet auf der einen Seite, dass alle Arbeiten nun eine technische Dimension haben, die die professionelle Nutzung von Hard- und Software meint, was neben der eigentlichen Nutzung oftmals auch Wartung und Reparatur umfasst. Auf der anderen Seite werden kommunikative Fragen und die Herausforderungen digitaler Identität und Sozialbeziehungen immer wichtiger. Schlussendlich kommt, gerade auch in industriellen Großorganisationen ein steigendes Maß an standardisierter Berichterstattung, also schlichte Verwaltungsarbeit, hinzu.

So entsteht eine Landkarte digitaler Kompetenzen, die drei unterschiedlichen Logiken folgt; nämlich einer technischen, einer administrativen und einer sozialen Logik, die allesamt die digitale Gesamtkompetenz abbilden, wobei

die technische Logik die handwerkliche Beherrschung von Hard- und Software bedeutet;

administrative Logik die professionelle Verwaltung von Daten und Dateien meint und

soziale Logik die Fragen der digitalisierten Interaktion umfasst.

Ergänzt werden diese Themen noch durch die individuellen Herausforderungen, die die neuen Formen raum- und zeitunabhängigen Arbeitens mit sich bringen.

Wie sieht also ein ganz normaler Arbeitstag, für wen auch immer, aus? Ein typischer Vormittag könnte so aussehen:

Nachdem die Mails gecheckt sind, die über Nacht reingekommen sind, soll eigentlich der regelmäßige Früh-Call als erste Regelkommunikationsschleife des Tages stattfinden, der aber leider recht rüde durch ein nicht zu stoppendes Update der VR-Brille unterbrochen wird. Danach funktioniert der VPS-Client nicht mehr. So ist der Umstieg aufs Smartphone zwingend und der Früh-Call ist zwar fast vorbei, aber die lieben Kolleg*innen zeigen Verständnis. Die IT schickt eine Mail mit kryptischen Anweisungen, aber mit dem guten alten Tool, mal alles vom Strom zu nehmen, wird alles wieder gut. Allerdings fragt die IT, wegen ihres Qualitätsmanagements, nun automatisiert nach, ob den alles zur Zufriedenheit läuft. Das Formular will ausgefüllt sein, bevor der nächste Videocall ansteht oder ob eines Präsenztermins in die Firma gewechselt werden muss….

An diesem durchaus typischen, wenn auch verdichteten, Vormittag eines Büromenschen, zeigt sich, wie sich die drei Logiken operativ auf den Alltag auswirken. So wollen Tätigkeiten aus allen drei Bereichen erledigt werden, und das teilweise automatisiert, so dass sich die Frage nach Priorisierung und Autonomie nicht stellt. Die kommunikative Seite dient zur Kompensation technischer und administrativer Defizite und wird so für Karriere und kollegiale Zusammenarbeit noch wichtiger, als sie in vordigitalen Zeiten eh schon war.

Zusammenfassend werden sich also Berufsbilder der Zukunft zunehmend aus Elementen der drei genannten Logiken zusammensetzen, die dabei im Gegensatz zu heute fast gleichwertig Nebeneinander stehen. Damit sind also die beruflichen Perspektiven für Beschäftigte, deren Begabung stark auf eine Logik fokussiert ist, in Zukunft limitiert. Auch die Entscheidung für einen technischen, kaufmännischen oder erzieherischen Beruf wird wohl nicht mehr so eindeutig zu treffen sein.

Das klingt auf der einen Seite sicherlich bedrohlich, aber es bietet neue Bilder beruflicher Tätigkeit, die vor dem Hintergrund der digitalen Transformation bereits im Entstehen sind. So finden sich in hochautomatisierten Fertigungen, mehr und mehr Runden zusammen, wo die Notwendigkeit vorausschauender Instandhaltung, die logistischen Bedarfe und die Produktionsplanung immer wieder aufs Neue austariert werden müssen, damit jede Fachabteilung im Sinne eines unternehmerischen Gesamtoptimums zu ihrem Recht kommt. Und dazu brauchen die Mechatroniker*innen, Logistiker*innen und Arbeitsvorbereiter*innen eben nicht nur ihre technischen Kompetenzen, sondern in einem hohen Maß kommunikative und planerische Kompetenzen und eben auch die administrative Kompetenz diese Planungen auch systemseitig abzulegen und einzupflegen. Derlei interdisziplinäre Abstimmungen und Projekte finden sich im modernen Industriebetrieb reichlich und nur allzu oft scheitern diese Projekte eben an der Dominanz einer Logik, sei es die technische Seite oder eben die logistische Perspektive.

Was heißt all das für die Zukunft der beruflichen Bildung?

Berufe folgen in der Regel der weiter oben vorgestellten Logik und sind deshalb in der Regel entweder technisch-handwerklicher, kaufmännischer oder pflegerisch-erzieherischer Natur. Von daher ist auch die Ausbildung stark auf die Vermittlung von Kenntnissen fokussiert, die diesen Logiken folgen. Die vorstehende Darstellung hat aber aufgezeigt, dass sich diese Fokussierung abschwächen muss und eine eher ganzheitliche Ausbildung erfolgen muss, wenn sie den arbeitsadäquat sein soll.

Das heißt für die technischen Berufe, dass neben den berufsinhaltlichen Kompetenzen wie die Metall- oder Elektrotechnik, zunächst auch die digitalen Kompetenzen für die Beherrschung von Laptop und Smartphone im Hier und Jetzt und das Bewegen in Augmented und Virtual Realities im Jetzt und Dann vermittelt werden müssen, bevor es auch, stärker als bisher, um die Fragen administrativer und kaufmännischer (beispielsweise bei der Handwerkerin im Verkaufsgespräch und der Kundenberatung) Kompetenz und um die kommunikativ-kreativen Kompetenzen etwa bei der Koordination von Baustellen gehen muss.

Das bedeutet für die administrativen Berufe einen höheren Ausbildungsanteil in Sachen digitaler Technologien und Beherrschung von Hard- und Software, inkl. Wartung und Reparatur einerseits und andererseits verstärkt Elemente von Projektmanagement und interdisziplinär abgestimmter Arbeit. Ähnliches gilt für
die erzieherischen Berufe.      

Ein weiterer Aspekt, der bislang noch nicht zur Sprache gekommen ist, ist die in der Digitalisierung steigende Bedeutung der Schriftsprache. Von Email und SMS bis whatsapp und den Chatfunktionen bei Teams, Zoom etc. wird mehr geschrieben, auch wenn es sich oftmals um geschriebene Sprechsprache handelt. Das allerdings führt nicht allzu selten zu Missverständnissen, die im betrieblichen Umfeld sogar Schaden anrichten (Stichwort: Satzzeichen retten Leben!). Ob das durch die Zunahme von Videokonferenzen und Videochats beheben lässt, ist solange offen, wie in vielen Fällen die Kamera ja ausbleibt!

Abschließend soll noch ein Thema angesprochen werden, dass die Unterscheidung von allgemeiner und beruflicher Bildung trifft. Es ergibt sich aus der steigenden Bedeutung von Kommunikation, Kreativität und Teamspirit. Um hier effizient zu arbeiten und gute Ergebnisse zu erzielen, kann es nicht nur um streng fachliche Inhalte gehen, sondern eben auch um Konversation und Small Talk. Und selbst der hat seine Voraussetzungen in einer gewissen Allgemeinbildung bzw. kultureller Bildung. Dabei geht es nicht um die Fokussierung auf Aspekte der Hochkultur, sondern um einen breiten Wissensbestand, der situations- und adressatengerecht abgerufen werden kann.          

Die berufliche Bildung der Zukunft wird also vier Säulen haben müssen. Da wäre

  1. die Technik
    Hier geht es einerseits für Alle um die technischen Kompetenzen die benötigt werden, um Hard- und Software professionell zu nutzen, sowie zu warten und ggfls. zu reparieren. Andererseits bedarf es in den technischen Berufen selbstredend einer fachlich fundierten Ausbildung an den Maschinen und Werkzeugen, sie den dahinterliegenden physikalisch-technischen Grundlagen.
  2. Die Administration / Das Kaufmännische
    Hier geht es einerseits um die Grundlagen des Projektmanagements und etwa bei handwerklichen Berufen um kaufmännische Grundlagen von Vertrieb und Buchhaltung. Andererseits sind natürlich auch hier bei den kaufmännischen Berufen die fachlichen Grundlagen zu legen.
  3. Das Soziale
    Hier geht es einerseits um die notwendigen Kompetenzen für professionelle aber empathische Kommunikation in Schrift und Wort, sowie den Grundlagen von Zusammenarbeit und Kollegialität. Die erzieherischen und pflegenden Berufe benötigen selbstredend darüber hinaus auch die entsprechenden fachlichen Grundlagen.
  4. Allgemeinbildung
    Hier geht es für alle um den kompetenten Umgang mit social media einerseits und das Lernen und Kennenlernen von Inhalt und Form guter Konversation in der analogen wie digitalen Welt. Darüber hinaus wäre in diesem Zusammenhang auch Demokratie und demokratische Tugenden ein Lernfeld.

Zusammenfassend wird sich die Berufswelt wohl stärker diversifizieren und von allem ein wenig gebraucht werden, auch wenn die Fokussierungen in bestimmten Berufen recht ähnlich bleiben. Hier gilt es vorsichtig zu sein, einfach weitere Kompetenzanforderungen oben auf zu packen, sondern den richtigen Mix zu gestalten. Und das wäre die fordernde Aufgabe für die berufliche Bildungsplanung der kommenden Jahre!


Klaus Mertens
Oktober 2021

Literatur:

Gottschall, K.; Voß, G. (2003), Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag, Mering

Oesch, D. (2013), Occupational Change in Europe. How Technology and Education transform the Job Structure, Oxford

Raphael, L. (2021), Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin

Reckwitz, A. (2017), Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin

Vester, M.; Weber-Menges, S. (2014), Zunehmende Kompetenz – wachsende Unsicherheit. Bericht zu dem von der Hans Böckler Stiftung geförderten Kurzprojekt Explorative Entwicklung und Erprobung eines Untersuchungsinstruments für integrierte und differenzierte Langfrist-Analysen der beruflichen Arbeitsteilung und der Prekarisierung der Erwerbsstruktur in der BRD 1991-2009 mit den Daten des Mikrozensus, Hannover

https://www.arbeit-corona.uni-osnabrueck.de/ (zuletzt besucht am 03.11.2021)

https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Themen/Klassen_und_Sozialstruktur/Vester_Michael_Berufsgliederung_BRD_S_GB_2000.pdf (zuletzt besucht am 03.11.2021)

Republik, Klimaschutz und gute Arbeit als Projekte der Aufklärung

Ich hatte am 12.02 Gelegenheit beim Klimastreik in Schweinfurt zu sprechen und bin das Thema etwas grundlegender angegangen, weil das ja manchmal hilft, den Überblick nicht zu verlieren:

Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde der Vernunft,

ich habe zwar nur fünf Minuten Zeit, will aber trotzdem darüber sprechen, wie unsere Kämpfe um soziale Gerechtigkeit, ökologischen Klimaschutz und eine demokratisch verfasste Republik zusammenhängen. Der Faktor der diese Kämpfe zusammenhält, ist die Vernunft, die Rationalität.

Erinnern wir uns kurz an den Geschichtsunterricht wo wir das 17. Jahrhundert als das beginnende Zeitalter der Aufklärung kennengelernt haben. Mit dieser Aufklärung ist sowohl die Entwicklung der universellen Menschenrechte, also der verwegene, aber zutiefst rationale Gedanken, dass alle Menschen gleich geboren sind und ein Recht auf Glück haben, als auch der Aufstieg der Naturwissenschaften als ein Welterkennen und -durchdringen, jenseits von Esoterik und Religion verbunden.

Die Aufklärung hat zu einer Entfesselung dieser Kräfte geführt, die schlussendlich auch den Klimawandel und die Ressourcenknappheit erzeugt haben, gegen die wir heute anarbeiten, indem wir uns für einen aktiven Klimaschutz und einen sorgsamen Umgang mit Rohstoffen einsetzen. Und auch das tun wir mit wissenschaftlicher Argumentation, eben weil Wissenschaft sich stetig weiterentwickelt und neue Erkenntnisse bringt.

Genau diese entfesselten Kräfte der Aufklärung, die aus den universellen Menschenrechten ein hohes Maß an individueller Freiheit abgeleitet haben, haben auch zu sozialer Ungleichheit geführt, die aber vernünftigerweise immer schon als soziale Ungerechtigkeit angeprangert wurde. Die Arbeiter*innenbewegung hat gegen diese Ungerechtigkeit schon immer mit Wissenschaft und guten Argumenten angekämpft und so sind wir heute soweit, dass wir erkennen, dass es gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit nur in einer klimagerechten Welt gibt.  

Aber wo stehen wir heute?

Wir haben es mit einer breiten Front interessierter Kreise zu tun, die den Klimawandel leugnet oder kleinredet, sich also naturwissenschaftlicher Erkenntnis entzieht und auf Lüge, Hass und Hetze setzt.

Wir haben es mit einer breiten Front interessierter Kreise zu tun, denen es nicht um eine gerechte Verteilung von und einen schonenden Umgang mit den Ressourcen dieser Erde geht, sondern sie leugnen, dass es endliche Ressourcen sind, um sie sich entschlossen mit Krieg und Ausbeutung unter den Nagel zu reißen.

Wir haben es mit einer breiten Front interessierter Kreise zu tun, die die Spaltung der Gesellschaft in Oben und Unten radikal vorantreiben, weil sie denken, dass sie sich mit Reichtum einen Ausweg aus der Klimakrise schon leisten können, was ich für Esoterik halte.
Und Sie spalten nicht nur materiell in Oben und Unten, sondern sie betreiben einen Kulturkampf, der ausgrenzt, Schuld zuschreibt und Hass sät.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Liebe Freunde der Vernunft,

Lasst uns diesen Kulturkampf annehmen und unsere der Aufklärung und der naturwissenschaftlichen Rationalität, den Menschenrechten und der Republik verpflichtete Sicht auf die Welt gegen Hass, Hetze, Ignoranz und Lüge ins Feld führen!

Lasst uns zusammen streiten für eine bessere Welt, die möglich ist.

Und lasst uns endlich erkennen, dass die gewerkschaftlichen Kämpfe um gute Arbeit, die Kämpfe der Umweltbewegung gegen den Klimawandel und die Ressourcenvernichtung und
die weltweiten Kämpfe für demokratische Strukturen zusammengehören.

Und deshalb gilt, gestern wie heute:

Von Schweinfurt bis nach Rojava,
Klimaschutz ist Antifa!  

Die soziale Frage in der Transformation

Vorbemerkung

Auf den ersten Blick erscheint der Titel ein wenig anachronistisch. Während die soziale Frage für die Meisten eher mit dem Geschichtsunterricht zur Industrialisierung verbunden wird, ist der Begriff der Transformation erst in den letzten Jahren wirklich in Mode gekommen und wird derzeit reichlich strapaziert. Dabei ist die Kategorie so neu nicht. Bereits 1944 hat Karl Polany mit seinem Werk „The great Transformation“ die vielschichtigen Prozesse beschrieben, die eine Transformation ausmachen und die eben nicht gradlinig und zielstrebig verläuft, sondern sich aus vielen Einzelschritten (hinter denen einzelne Interessen stecken) und auch Irrwegen ergibt. Und dabei hat er auch die Prozesse analysiert, die die Industrialisierung und die Bildung der Nationalstaaten in Europa befördert haben. 

Es ist also nur folgerichtig sich auch 2025 mit der sozialen Frage in der Transformation zu beschäftigen, zeigen sich doch bei Arbeit, Boden und Kapital gravierende Veränderungen ab:

  • Arbeit verändert sich durch Digitalisierung und Automatisierung so
    grundlegend wie während des Wandels von der Feld- zur Industriearbeit.
  • Boden, als Synonym für Rohstoffe und die natürliche Umwelt, wird so knapp und prekär wie noch nie. Klimawandel und Rohstoffknappheit werden zentrale ökonomische Faktoren.
  • Kapital ist bereits digitalisiert und trägt etwa als Kryptowährung zum Bedeutungs-verlust der Nationalstaaten bei, weil ein Kennzeichen der Staatlichkeit nun einmal
    das Münzrecht ist und wo das privatisiert wird, verliert Staat eine seiner Grundfesten.

Dieser Beitrag will dabei versuchen, diese Entwicklungen vor dem Hintergrund aktueller Sozialstrukturen zu skizzieren. Diese Strukturen überlagern sich z.T., weil sie dieselbe Gesellschaft unter verschiedenen sozioökonomischen Gesichtswinkeln darstellen. Aber um die politischen Dimensionen der aktuellen Transformationsprozesse zu erfassen, müssen sie zusammen gedacht werden. Auch das ergibt sich aus der Beobachtung, dass die soziale Neuformierung der Gesellschaft im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung auch die politische Landschaft grundlegend verändert hat, etwa durch das Entstehen der Arbeiterbewegung einerseits und der Emanzipation des Bürgertums andererseits.
Dieser Beitrag stellt auch dar, wie die Neuformierung des politischen Raums aktuell beschrieben werden kann.   

Sozialstruktur und Transformation

Sozialstrukturanalysen sind zumeist monokausal auf Einkommen und Vermögen, sowie Bildung/Beruf und damit verbundenem Status ausgerichtet. So entstehen mehr oder weniger pyramidal ausgerichtete Modelle, die eine kleine Spitze, so genannte Eliten, und einen breiten Boden, die so genannte Unterschicht, und dazwischen, in allen möglichen Ausprägungen, so genannte Mittelschichten aller Art, darstellen.

Hinsichtlich der Wirkmächtigkeit auf die und Betroffenheit von der Transformation unterscheiden sich die unterschiedlichen „Etagen“ der Sozialstrukturmodelle, hier beispielhaft das geißlersche Modell, doch ganz erheblich. So ist der CO2-Verbrauch der einkommensstarken Eliten und oberen Mittelschichten um ein Vielfaches höher als der
CO2-Footprint von Unterschicht und unteren Mittelschichten, während die Risiken von Arbeitslosigkeit und Armut, die durch die ökonomischen Verwerfungen in der Transformation zunehmen, wohl eher die Unterschicht und unteren/mittleren Mittelschichten treffen.

Daneben unterscheidet sich das gesellschaftliche Oben und Unten auch hinsichtlich des Einflusses auf Politik und Gesellschaft, und das durchaus wenig altruistisch, sondern im Interesse von Schicht und Klasse! Das verhindert auch bislang, dass die unterschiedlich hohen Verantwortlichkeiten für Umweltverschmutzung und nachhaltiges Wirtschaften sich
in entsprechenden Steuern und Abgaben oder ordnungs-, verkehrs- und sozialpolitischen Maßnahmen niederschlagen.

Als Volkswirtschaft gilt das übrigens auch international. Da hat Deutschland als eines der reichsten Länder dieser Erde schlicht eine deutlich höhere Verantwortung als die Länder des globalen Südens, die aber am ehesten etwa unter dem Klimawandel zu leiden haben. Das sollte nicht nur Anlass sein, dort in der Transformation zu helfen, sondern gerade auch in Deutschland die Transformation hin zu einem nachhaltigen Wirtschaften zu beschleunigen.

Transformationen in Deutschland aktuell

Wie zeigt sich nun die Transformation derzeit in Deutschland?

Nachdem über lange Jahre eine starke Exportorientierung mit billiger Energie und günstigen Rohstoffpreisen für stetes Wachstum und ein gewisses Verteilungsvolumen gesorgt hat, zeigten sich erstmals in der Krise 2008/2009 und dann etwa ab 2018/19 Risse im Geschäftsmodell, die durch Corona und den russischen Angriff auf die Ukraine nur kaschiert wurden. Diese Risse sind in den letzten Monaten aber immer deutlicher geworden, denn das Wachstum ist ausgeblieben und der Lack bröckelt.

Die Produktion sinkt, weil sich die starke Exportorientierung nun rächt. Der Aufbau resilienter Lieferketten führt nun zu einer local-for-local-Produktion in den Zielmärkten, was den Unternehmen weniger schadet als Arbeit und Beschäftigung in Deutschland. Arbeit und Beschäftigung stehen des Weiteren durch eine fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung unter Druck, die zunehmend auch komplexe, aber standardisierbare Tätigkeiten erfasst. Hinzu kommt in vielen Branchen, insbesondere der Automobilindustrie der Wandel von mechanischen zu elektrischen bzw. elektronischen Konstruktionselementen,
womit in der Regel auch die Anzahl benötigter Komponenten, ergo menschlicher Arbeit, sinkt.

Die Kompensation des Verlusts industrieller Arbeitsplätze durch eine Stärkung des Dienstleistungssektors, insbesondere der CARE-Berufe, will nicht so recht gelingen, was vielerlei Gründe hat. Im Vordergrund steht die immer noch deutlich schlechtere Bezahlung in diesen Bereichen, woran auch die Systemrelevanz dieser Berufe, die in der Pandemie ja allerorten bemüht wurde, nichts geändert hat. Ein weiterer Grund ist sicherlich auch der männlich konnotierte Blick auf Arbeit, der dem Einzelnen den Schritt vom Fließband an das Krankenbett schwer macht. Schlussendlich geht es aber auch darum, dass nur wenige Arbeitgeber wie Konsumenten bereit sind, Dienstleistung angemessen und sozialversicherungspflichtig zu entlohnen, wie etwa die Lage bei den haushaltsnahen Dienstleistungen deutlich macht.

Im Gegensatz zur Situation im Dienstleistungssektor steht dem Bedeutungsverlust industrieller Arbeit im Bereich des Handwerks durchaus Kompensationspotential entgegen, da die Herausforderungen einer nachhaltigen Zukunft, wie etwa in der Energie- und Mobilitätswende einen hohen Bedarf an handwerklich ausgebildeten Arbeitskräften von der Installateurin bis hin zum Fahrradmechaniker ausweist. Hier bleibt allerdings zu beobachten, wie sich Attraktivität dieser Berufsfelder weiterentwickelt, da sich die Mehrzahl der Schulabgänger*innen ja für Bildungs- und Ausbildungswege entscheidet, die eher Richtung Hochschule führen.

Zusammenfassend verliert also industrielle Arbeit an Bedeutung, die derzeit weder in den Dienstleistungsbereichen noch im Handwerk aus genannten Gründen kompensiert werden kann. Diese Situation wird sich im Übrigen nicht über Repression gegen einzelne Arbeitnehmer*innen ändern lassen, sondern nur mit einer gemeinsamen gesellschaftlichen Anstrengung in Bildungs-, Sozial- und Tarifpolitik!

Transformation in Zahlen

Die aufgeführten Transformationsaspekte und der damit verbunden Verlust industrieller Arbeitsplätze soll an dieser Stelle konkretisiert werden, wobei es konkret um die Automobilbranche geht. Es wird wo von folgenden Annahmen ausgegangen

  • Produktivitätssteigerung durch Digitalisierung/Automatisierung von jährlich 5% ausgegangen wird.
  • Exportanteil von 70% der Gesamtproduktion, der sich jährlich um 4% verringert
  • Inlandsproduktion, die etwa durch Aspekte der Verkehrswende oder eine verfehlte Infrastrukturpolitik um jährlich 2% zurückgeht.

Diese Annahmen, die durchaus plausibel sind, führen im Ergebnis dazu, dass davon auszugehen ist, dass die Automobilindustrie in Deutschland von 2030 nur noch 2/3 der Arbeitsplätze von 2018, also vor Beginn der Krisen, ausweisen kann! Im Jahr 2018 hatte die deutsche Automobilindustrie 834.000 Beschäftigte, was dann bis 2030 den Verlust von 311.000 Arbeitsplätzen bedeuten würde, wobei das nur die direkt in der Branche Beschäftigten sind. Da an jedem industriellen Arbeitsplatz etwa 3,5 andere Arbeitsplätze von Bäckerin bis Altenpfleger hängen, ist das Ausmaß allein dieser Transformation in seiner Auswirkung auf die Volkswirtschaft kaum zu überschätzen.

Allerdings findet die gesellschaftliche Debatte, außer in einigen marginalisierten, aber hochkompetenten Kreisen, hinsichtlich einer geplanten Konversion von Arbeit und Arbeitsplätzen in Dienstleistung, Handwerk und Gewerbe oder in neue Industrien schlicht nicht statt! Aber nur auf Grundlage einer solchen breit geführten Debatte, kann eine Transformation by design, not by desaster gelingen!

Die soziale Frage aktuell

Nachdem vorstehend die sozialstrukturellen Veränderungen in der Transformation dargestellt wurden, soll die soziale Frage nun eher in ihrer politischen Dimension, also als Ausgangspunkt für das Entstehen neuer politischer Formationen oder der Erneuerung bestehender Zusammenhänge beschrieben werden. Für diesen Perspektivwechsel sollen zunächst einige Aspekte mit politischer Wirkmächtigkeit vorgestellt werden.

  • Die Menschen machen sich zunehmend Sorge um Arbeitsplatzverlust und Armut. Diese Ängste treffen zunehmend auch Arbeitnehmer*innen mit Hochschulabschluss, die bislang als eher gut geschützt vor Arbeitsplatzverlust, wenn auch nicht vor prekärer Beschäftigung und Armut, gegolten haben.
  • Prekäre Beschäftigung ist aber auch nach der Pandemie Strukturmerkmal der CARE-Berufe insbesondere und der Dienstleistungsbranche im Allgemeinen. Das meint hier niedrige Löhne und unsichere Arbeitsplätze.
  • Die Schere zwischen Einkommen aus Vermögen und Arbeit driftet immer weiter auseinander und das Aufstiegsversprechen durch Lohnarbeit wird immer seltener eingelöst.
  • Die Optionen auf einen höheren Bildungsabschluss sind nach wie vor hochgradig ungerecht verteilt, so dass von 100 Arbeiter*innenkindern nur Eines den Doktortitel erlangt, aber aus Akademiker*innenhaushalten zehn Kinder promovieren. Aus 100 Arbeitnehmer*innenhaushalten erlangen acht Kinder einen Mastertitel und aus 100 Akademikerfamilien kommen sage und schreibe 45 Masteranten!
  • Insgesamt ist ein roll back sozialen Ausgleichs wahrzunehmen und die Zahl realer, wie gefühlter Exklusion, Diskriminierung und Benachteiligung nimmt zu. Das hängt einerseits mit der Zunahme rechter Einstellungsmuster und andererseits mit dem Abbau und Diskreditierung sozialstaatlicher Leistungen zusammen.

Die Wirkmächtigkeit dieser Faktoren hängen mit ihrer individuellen Wahrnehmung einerseits und der individuellen Betroffenheit andererseits zusammen, die beide nichts mit der objektiven Positionierung in der Sozialstruktur zu tun haben müssen: Vielmehr handelt es sich um höchst subjektive Selbsteinschätzungen, die wiederum natürlich wiederum reziprok mit gesellschaftlichen Rollenbildern verbunden sind. Spannend ist nun die Frage, wie sich diese individuellen und subjektiven Positionierungen politisch organisieren oder zumindest so clustern lassen, dass Ansätze für Politik, als Arbeit an gesellschaftlicher Entwicklung sichtbar werden. Dieser Frage geht der nächste Abschnitt nach.

Die soziale Frage als politische Frage und Klassenverhältnissen

Die soziale Frage stellt sich also aktuell sowohl hinsichtlich objektiver Veränderungen und Herausforderungen als auch in Bezug auf deren individuellen Wahrnehmung und subjektiven Betroffenheit, was durchaus stark voneinander abgekoppelt sein kann, so dar, dass sich die milieuspezifischen Einstellungen durch alle sozialen Schichten ziehen.

Vor diesem Hintergrund steht die klassische Darstellung der allseits bekannten Sinus-Milieus, die die Milieus ja in einer Schichtstruktur verortet, irgendwie zur Disposition. Es stellt sich vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen vereinfacht dann so dar:

Und so erklärt sich auch, warum Klimapolitik nicht als gesamtgesellschaftliche Frage, sondern als Privatvergnügen moderner Mittelschichten, also der Schichten auf der rechten Seite des Modells, etikettiert wird und von Facharbeitern bis hin zu kleinstädtischen Honoratioren allesamt und gemeinsam um ihren Status fürchten, wenn KI und Roboter das Leben einfacher machen.

Die soziale Frage in der Transformation, wird überlagert von einem Kulturkampf zwischen traditionellen Milieus einerseits und Modernisierer*innen andererseits. Dem ist politisch Rechnung zu tragen, wenn die Transformation sozial gerecht gestaltet werden soll. Hier sind auch neue Bündnisse zu schmieden, die quer zu Klassen und Schichten liegen können. Das zeigt sich gut an vereinzelten Beispielen, wie etwa bei Bosch in München-Laim, wo Fridays for Future Betriebsräte im Kampf gegen Verlagerungspläne unterstützt hat, indem gemeinsam an Konversionsideen gearbeitet wurde.

Insgesamt erscheint es ratsam die sachlich-fachlichen Themen der Transformation kulturell zu überformen und in ein positives Narrativ zu integrieren, das möglichst viele Milieus anspricht, aber eben auch die soziale Frage als sozialstrukturelle Frage stellt. Das ist zurzeit leider so gut wie nirgends in Sicht. Während die Einen identitätspolitisch das Individuum völlig in den Vordergrund stellen, sind die Anderen so paternalistisch wie in den 70ern unterwegs.

Das hilft aber beides nicht. Deshalb scheinen die Rechtspopulisten und -extremen mit ihrem Narrativ vom „Früher war alles besser“ auch einfach durchzumarschieren. Das ist allerdings  fatal, weil in der Transformation, die mit Klimawandel und Ressourcenknappheit umgehen will, die Leugnung dieser zentralen physikalischen Faktoren, die Veränderungen erzwingen, Stillstand bedeutet!

So wird den fortschrittlichen Kräften im Land nichts anderes übrigbleiben, als sich an vielen Stellen neu zu erfinden und das wahrscheinlich jenseits eines Parteiengeflechts aus dem letzten Jahrtausend und Zuschreibungen von Oben und Unten, die mit der Gefühlslage der Menschen nicht mehr viel zu tun hat. Das wird mühselig und sicherlich schmerzhaft!

Fazit

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die soziale Frage hinsichtlich ihrer zwei Dimensionen, der sozialstrukturellen, wie der politischen, nichts von ihrer Aktualität
verloren hat, sondern die Thematik eher an Brisanz gewinnt, weil die sozialen Verwerfungen, die Klimawandel und Ressourcenknappheit mit sich bringen, mit großer Wucht auf uns zukommen. Hier gilt es also Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Sozialpolitik stark zu machen.

Dazu brauchen wir eine gesellschaftliche Auseinandersetzung um das Tätigsein. Die Care-bereiche, den Schwund industrieller Arbeit, die Vergleichbarkeit menschlicher Arbeit mit Maschinen wie Robotern oder KI und vieles mehr müssen Anlass sein, die männlich konnotierte Sicht auf Arbeit weiterzuentwickeln.

Leider besteht berechtigter Zweifel das angesichts der derzeitigen politischen Lage und den dahinter liegenden Klassenverhältnissen eine konsequente sozial-ökologische Transformation mit sozialer Gerechtigkeit, individueller Emanzipation und nachhaltigem Wirtschaften realisierbar ist. Das bedeutet allerdings nicht die Flinte ins Korn zu werfen, sondern stetig weiter daran zu arbeiten und neue Bündnisse zu suchen.
Bildet Banden!

Literatur

Bertram Barth, Berthold Bodo Flaig, Norbert Schäuble, Manfred Tautscher „Praxis der Sinus-Milieus. Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschafts- und Zielgruppenmodells“ Wiesbaden 2023

Lia Becker, Mario Candeias, Janek Niggemann &  Anne Steckner
„Gramsci lesen – Einstiege in die Gefängnishefte, Hamburg 2024

Richard Detje, Dieter Sauer, Ursula Stöger und Hilde Wagner
„Die AfD – eine »Arbeiterpartei« ohne betriebliche Basis? in Luxemburg 2/2024

A. Katharina Keil „Labour strategies in the German automotive industry:
limits and potentials of conversion from a Gramscian perspective” 2024

Kai Lindemann „Die Politik der Rackets. Zur Praxis der herrschenden Klassen“ Münster 2021

Karl Polany „Die große Transformation“, (Orig. 1944), Berlin 2001

Lutz Raphael „Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom“, Berlin 2019

Andreas Reckwitz „Die Gesellschaft der Singularitäten“ Berlin 2019

Simon Schaupp „Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten“ Berlin 2024

Knut Tullius, Harald Wolf und Berthold Vogel „Abschied von gestern. Mentalitäten und Transformationserfahrungen von Arbeitnehmer*innen in der Automobilindustrie in der Region Stuttgart“ Düsseldorf 2023