Um Gottes Willen, sind die alle aufgeregt. Klar. Heute geht es aufs Ende zu, Santiago, aber ich bin nicht bereit, das im Sinne eines „So, jetzt ist das geschafft“ zu sehen, sondern eher so, irgendwie anders. Ich weiß es auch vielleicht deshalb nicht so genau zu beschreiben, weil die Dödel für 14km morgens um sechs aufbrechen. Da lieg ich noch. Und dreh mich rum. Beim Rumdrehen fällt mir ein, daß die deshalb Freitags spätestens um Zwölfe da sein wollen , weil sie dann garantiert dieses Mordsweihrauchfaß mitkriegen. Sehen würde ich das auch gerne mal, aber was hat das mit meinem Weg zu tun?
Die letzten Kilometer sind für mich natürlich auch was ganz Besonderes. Immerhin bin ich jetzt seit vier Monaten und zwei Tagen unterwegs. Zu Fuß. Mit 12Kilo Gepäck. Und das geht nun Zuende. Hm. Geht das zu Ende? Oder sind da Links gelegt, wo das weitergeht. Wo ist auch die Heraussforderung die gesponnenen Gedanken in einer industriell-tradeunionistischen Gesellschaft zu strukturieren und in Projekten zu konkretisieren? Ich weiß es nicht, dreh mich nochmal um und komme gegen Neun los.
Allen anderen, mit ähnlichen und anderen Gedanken, geht es wohl ähnlich, weil die Einkehrdichte und -häufigkeit deutlich zunimmt. Ich gehe an den meisten vorbei, weil es schwierig ist. Als eineWoche-zweiWochen-100km-Gruppe hast du andere Dinge im Kopf als ich, und dann feierst du dich als Gruppe. Erstaunlich finde ich tatsächlich dieses Gruppen-T-Shirt-Austeilen, damit auch einheitlich in Santiago aufgelaufen wird. Natürlich in Funktionsshirts. Das ist auch nett, aber mir ist das „Ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform“ so in Fleisch und Blut übergegangen, daß ich es nicht mag. (Das gilt nicht für die Rettungsdienste und die Feuerwehr. Thank you, every day!) Ich find dann trotzdem was kommodes und ernte das größte Bocadillo meines Lebens. Zwei Hand lang, eine Hand breit. Frisches Brot gefüllt mit Tuna, Tomates y Zwiebeln… So satt. Ich wollte ein Bocadillo, keine Familien-Packung, aber so lecker.Natürlich ess ich es auf. Und gehe dann weiter. Smoothy. Also nicht ganz so schnell.
Trotz alledem bin ich dann über den letzten Hügel und schaue auf Santiago. Ich sehe die Stadt und fange ganz schlicht das Heulen an. Ich bin da. Der kleine, dicke Mertens ist den Weg gegangen. Und als ich tränenverhangen meine ein Foto schießen zu wollen, fragt mich ein spanischer Papa, ob alles ok ist, und ich erzähle dem Papa, der Mama und den zwei niños die Geschichte und dann klatschen die. Das macht es nicht besser, ist aber so schön. Danach kann nichts mehr kommen. Ich gehe in die Stadt, Richtung Stadtmitte und bin dann da. Stehe mit meinen 12Kilo all inclusive auf dem Platz vor der Kathedrale und bin ganz komisch unberührt. Stehe da und denke… nichts. Auch gefühlsmäßig macht sich nichts breit, weder Trauer, noch Freude. Obwohl ich natürlich schon reichlich froh bin, daß ich das geschafft habe und das es in Gänze bis hierhin reichlich klasse war. Dankbarkeit entsteht, dafür, daß das möglich war und ist, sowie dafür das es gut gelaufen ist. Ein ziemliches Kuddelmuddel. Also erstmal was vernünftiges tun und einchecken. Ich habe mich für drei Nächte in einem kleinen familiengeführten Hotel am Rande der Altstadt eingemietet, weil so a weng was Besseres darf es dann zur Belohnung doch sein. Ich wäre ja nicht ich, wenn ich mich ohne Not kasteien würde. ☺
Das Hotel übertrifft die Erwartungen. So sympathische und feine Leute. Directement zu Beginn beim Einchecken entspinnt sich mit der Tochter des Hauses, die Englisch kann, ein interessantes Gespräch über die aktuelle Situation und das nordspanische Spannungsfeld zwischen Machismo und Matriarchat in Bezug auf Frauenerwerbstätigkeit einerseits und die Feminisierung der Gesellschaft andererseits, weil sie Sorge hat, daß sich Frauen die Karriere machen wollen, ihrer weiblichen Werte entledigen. Die Sorge kann ich als jemand aus dem Land von Angela Merkel leider nicht nehmen. Das Gespräch wird rüde durch die Ankunft weiterer Gäste unterbrochen und ich beziehe mein Zimmer.
Abends ziehe ich dann los und erkunde die wunderschöne Stadt. Ich hatte mir allerdings auch schon per Internet ein Restaurant ausgeguckt, das allseitig empfohlen wurde. Kurz bevor ich das Restaurant erreiche, entdecke ich den Dell-Mann, also der mal für Dell gearbeitet hat und denn ich tageweise zwischen Logroño und Burgos immer mal wieder getroffen habe. Großes Hallo und natürlich stoßen wir gemeinsam an. Er ist in Begleitung einer ehemaligen NYPD-Mitarbeiterin, die den Camino in 24 Etappen hinter sich gebracht hat. Die lustige Geschichte, die der Camino mit den Beiden geschrieben hat, ist die, daß sie sich am Flughafen in Toulouse kennengelernt haben, aber beide aus Austin, Texas kommen und keine fünf Kilometer auseinander wohnen und sich wohl nie kennengelernt hätten. Wir drei kommen gut klar, haben denselben Humor und es wird viel gelacht. Als alle Hunger haben, wollen wir ins ausgeguckte Resto wechseln, daß aber bereits ausgebucht ist. Es gibt allerdings einen Ableger, der ein Tapasmenü anbietet. Also Straßenseite gewechselt und einen Platz ergattert. Was dann kommt, ist eine kulinarische Offenbarung. So geil. Zu Beginn dreierlei Meeresfrüchte. Austern, kleine Langustinos und Miesmuscheln. Toll und meine Premiere mit Austern. Lecker, aber muß man nicht so ein Drama drum machen. Weil rausgehauen hats die Vinaigrette, die das Salzige der Auster aufgegriffen und mit kleingehacktem grünen Paprika schön rund gemacht hat. Dann gibts Navajas (Schwertmuscheln) vom Grill. Zarter Rauch umhüllt das knackige Muschelfleisch. Sehr lecker und Ahs und Ohs ersetzen das Tischgespräch. Darauf kommt ein Stück Fisch mit einem Kartoffelpü, das auf Kräutern schwebt. Super. Zum krönenden Abschluß wird eine Eigenkreation des Hauses serviert. Gegrillte Chorizo und geröstete Brotkrumen schwimmen auf einer Eierpampe. Das Ganze wird miteinander verrührt und mit dem Löffel gegessen. Klingt irgendwie komisch, ist aber herrlich. Dann ist das Menü auch verzehrt und der Service komplimentiert uns in den Loungebereich auf der Straße. Also hocken wir drei selig grinsend auf Palettenmöbeln und leeren bereits die zweite Flasche Wein, einen wirklich guten Godello, der in seiner Trockenheit gut zum Fisch gepasst hat. Das Gespräch plätschert und da die beiden morgen einen Tagesausflug unternehmen wollen, löst sich die Runde auf. Ich mache mich auf den Heimweg und bin froh diesen Tag, das Ende des Weges, nicht alleine gefeiert zu haben, sondern mit zwei netten Menschen, die ihren Weg auch gegangen sind. Das ist einfach besser als, und sei das Essen noch so gut, da alleine zu hocken und vor sich hin zu grübeln. In der Hotelbar gibt es noch einen roten Absacker. Und dann ist Ausschlafen angesagt, ohne Packen zu müssen…
Ich schaffe es auch ganz prima bis zehn liegenzubleiben, um mich dann frischzumachen und Richtung Altstadt zu gehen. Heute ist nämlich Sonntag und um 12.00h ist Pilgermesse. Als guter Katholik halte ich das für eine runde Sache. Als ich um viertel vor um die Ecke biege, erlebe ich eine böse Überraschung. Complet. Die Kirche wäre schon bis zum Rand gefüllt. Ich bin echt enttäuscht, aber morgen ist ja auch noch ein Tag und die Messe wird jeden Tag gelesen. Alternativprogramm wird dann das touristische Drumrum. Souvenirshops abgrasen und Fotos machen. Das mit den Souvenirshops passt vielleicht nicht so ganz zu mir, aber ich bin wild entschlossen, mir ein Andenken zu kaufen. Irgendwas cooles. Es wird ein T-Shirt, nicht originell aber platzsparend. Und ein Schlüsselanhänger, genauso einer, wie ich den schonmal gekauft habe, als ich mit dem Motorrad hier war. Den hab ich allerdings verloren, was ja wieder passieren kann. Ich kaufe drei Stück. Ich bummele weiter und irgendwer, der Spaß an meiner kulinarischen Freude hat, führt mich in eine Tapasbar, die ich in den kommenden Tagen noch zwei Mal besuchen werde. Das weiß ich noch nicht, wie ich mich setze und ein kleines Bier bestelle, aber jetzt, wo ich da war, ist es eine Tatsache. Zunächst bestelle ich ein kleines Bier und ein Tapa mit gegrilltem Lauch auf Piemento garniert mit Sardelle. Ganz schlicht, aber zum Bier groß. Dann entdecke ich eine ganz kleine Weinkarte. Die drei Weißen Galiciens und den Roten. Zu jedem Wein ein anderer Winzer und Basta. Da hat jemand Erfahrung und Mut eine Entscheidung zu treffen. Ein trockener Godello begleitet mich durch weitere Tapas, eine Käsekrokette, ein Lachs-Möhren-Salat und ein Rührei mit Waldpilzen. Alles ist von ausgesuchter Qualität und schmeckt richtig lecker. Ich bin begeistert. Natürlich auch weil das Team hinter der Theke richtig gut ist und sich nicht auf den Füßen steht. Einer der Kollegen spricht sogar deutsch, weil er aus der DomRep über Berlin nach Santiago gekommen ist. Die Zeit vergeht fluffig und es schlägt Siesta. Also ab aufs Bett. Sich von Olympia berieseln lassen und wegdämmern hat auch was.
Abends gehe ich dann wieder los und irgendwas treibt mich auf den Platz vor der Kathedrale, wo die Pilger ankommen. Anscheinend will ich, der so gerne für sich ist, doch den ein oder die andere wiedersehen, sich beglückwünschen und ein paar Worte wechseln, wie am Nachmittag mit dem Mutter-Tochter-Pärchen, die ich vor Sahagun getroffen habe. Die hatten es nun auch geschafft, man freut sich miteinander und erzählt sich Sachen, die man dem Sitznachbar im ICE niemals ans Bein binden würde. Die Beiden wollen weiter nach Marseille, um dort noch ein paar Tage runterzukommen. Das haben sie als 14Tage-Wandererinnen sich nach dem ersten Mal angewöhnt, weil sie dem Mann im Haus mit ihren Geschichten und Vertraulichkeiten wohl arg auf den Wecker gegangen sind. Ich bin ja mal gespannt, wie das bei mir wird… Naja, mittlerweile ist alles auf den Beinen und die abendliche Runde wird gedreht. Ich teste zwei weitere Tapasbars, und lande wieder in meiner Stammbar. Ich probiere mich weiter durch, rede ein wenig mit einem amerikanischen Pärchen, die mit Mutter und Bruder über Lissabon und Fatima nach Santiago sind, um morgen nach Rom zu fliegen. Wir reden über Jerusalem und Israel, über Portugal und Trump. Die zentrale Aussage ist die, daß Trump die Leute einsammelt, die die Schnauze voll vom Establishment und der politischen Klasse haben. Das geht in die Richtung, die ich in Frankreich schonmal konstatiert habe. Der Staat wird nicht als Plattform, sondern als Beute der Mächtigen und Repressionsapparat gesehen. Und dieses Gefühl löst sich eher nach rechts auf. Das ist für sozialstaatsfixierte Linke ein echtes Problem… Mit dem Problem bleibe ich alleine und gehe heim. Meine Kickers haben ihr erstes Zweitligaspielmit 2:1 verloren und ich bin in Santiago. Wenn es dicke kommt, kommt alles zusammen. ☺
Montag morgen. Neue Woche. Und ich hab Stress. Deshalb geht es früh los, Richtung Decathlon. Ich brauche nämlich eine größere Tasche, weil ich ja nun auch wieder für die verbleibenden sechs Wochen in Spanien mal was anderes tragen will als Outdoorklamotten. Und für das geplante Relaxing aufm Campingplatz am Meer brauch ich auch noch n paar Kleinigkeiten. Also los. 4,5km einfache Strecke ist ja ein Klacks. Echt. Zack bin ich da, finde was ich brauche und zack bin ich auch wieder im Hotel. Zack meint eine Stunde. Da hat sich bei mir echt a weng was verschoben. Nun aber schnell geduscht und ab Richtung Pilgermesse. Diesmal kriege ich einen Platz, sogar einen Guten. Die Messe soll für mich der rituelle Schlußpunkt der Wanderung sein, weshalb mir recht feierlich zu Mute ist. Die Messe wird auf spanisch gehalten, was mich nicht stört, weil der Ablauf ja derselbe ist wie daheim. Es ist ein schönes Gefühl, da im Kreis der Mitwandernden zu stehen und das ganze wird noch durch eine große Zahl brasilianischer Pfadfinder aufgewertet, die in ihrem Dress angetreten sind. Den Pfadfindern ist es auch zu verdanken, daß ich an einem Montag erleben darf, wie das große Weihrauchfaß, der Botafumeiro, geschwenkt wird. Das wird in der Regel nämlich nur Freitags angeschmissen. Ich freue mich wie Bolle, das in echt zu sehen. Ganz groß.
Nach der Messe geht es in die Stammkneipe auf ein Bier und zwei Tapas, ein Stückchen Tortilla und ein Kalbfleischsspieß mit Zucchini und Pilzen. Dann in die Markthalle und zwei Nektarinen gekauft. Als Nachtisch auf der Parkbank gegessen und heim. Nun sitz ich hier und schreibe. Wie es mir letztendlich damit geht, daß der Weg nun gegangen ist, kann ich immer noch nicht sagen. Was ich sagen kann, ist, daß ich gestern und heute die Latscherei nicht wirklich vermisst habe. Gleich werde ich aber noch die Fahrkarte nach Orviedo besorgen, dann meinen letzten Abend in Santiago begehen und in den kommenden Wochen weiter in mich reinhorchen.
Damit endet aber das Kapitel „Vino, Guerra y Camino“ auf diesem Blog. Ich hoffe, es hat ein wenig Spaß gemacht mir zu folgen. Vielleicht hat es ja auch zum Nachdenken angeregt oder auch Lust gemacht sich selber auf irgendeinen Weg zu machen. Das kann ich auf jeden Fall uneingeschränkt empfehlen.
Bedanken möchte ich mich bei all denen, die mich mit ihren Kommentaren hier oder auf fb aktiv unterstützt haben. Und natürlich bei der, mit der ich jeden Tag telefoniert habe, meiner Liebsten. Von einem lieben Menschen mußte ich in der Zeit Abschied nehmen, einer ist schwer erkrankt, aber auf dem Weg der Heilung, einige haben enge Angehörige verloren, andere wiederum wissen nun, daß sie Eltern werden. Ich habe an Euch gedacht. Ihr ward bei mir.
You’ll never walk alone!