Sonntagmorgen an einem deutschen Provinzbahnhof. Nur ich, mein Rucksack und ein Belgien-Ticket der deutschen Bahn, dass das kostengünstige Reisen nach Belgien erst möglich macht. So ein wenig kommt Interrail-Stimmung auf, weil die Stimmung passt und ich schon lange nicht mehr im Ausland Bahn gefahren bin. Hinzu kommt eine leichte Nervosität, ob denn auch alles klappt und die Vorfreude auf ein wenig Abstand zum Hier und Jetzt. Reiseziele sind Brügge und Antwerpen, zwei der drei flandrischen Städte, die ich schon länger auf dem Plan habe, aber Gent werde ich nicht schaffen. Dafür sind zweieinhalb Tage einfach zu kurz.
Zunächst geht es über Köln und Brüssel nach Brügge. Erwähnenswert an der Bahnfahrt ist eigentlich nur der Aufenthalt in Köln, weil ich als seit Jahren nach Süddeutschland ausgewanderter Arbeitsmigrant die Umsteigezeit für diese wunderbare Mettwurst von Meister Bock nutze, die ich früher häufiger genießen konnte. Dabei kommt mir in den Sinn, dass ich schon ewig nicht mehr durch Köln gebummelt bin. Wahrscheinlich auch ein Fehler. Aber so ändern sich die Zeiten.
Am frühen Nachmittag treffe ich in Brügge ein, einem nicht kriegszerstörten, deshalb zum Weltkulturerbe gemachten 100.000 Leute-Städtchen, also eher übersichtlich. Ein riesiger Bahnhofsvorplatz von quasi-chinesischem Ausmaß ist schnell überquert und ich tauche in die Altstadt ein. Gut erhaltene Bausubstanz, pittoreskes Stadtbild, durchzogen von Kanälen und hie und da ein Baum. Ich checke schnell im Hotel ein, dass in einem ehemaligen Krankenhaus eingerichtet wurde und beginne meine Stadterkundung.
Und schon nach einigen Schritten fühle ich mich wohl und bekomme diesen provozierend langsamen Gang (denke ich zumindest) des Flaneurs, dieses leider wohl vom Aussterben bedrohten Typus des Tagediebs, der sich durch Stadt und Parks treiben lässt und den Blick für Details nicht verliert. Da sind die vielen kleinen Lädchen mit belgischen Spezialitäten. Da sind das Rathaus, die Kirchen, der Belfort am Marktplatz und vieles mehr. Aber mir geht’s auch nicht um das Sehenswürdigkeiten abhaken, sondern ums Eintauchen. Äh, und wo ginge das besser als bei einem lecker Bierchen auf dem Marktplatz? Nirgends! Also hock ich da, lass Einheimische wie Touristen an mir vorüber ziehen und genieße den Tag, aber langsam stellt sich Hunger ein.
Beim Flanieren ist mir schon ein Restaurant ins Auge gefallen, das unweit des Marktes als regionale Spezialität ein über Nacht in Trappisten-Bier eingelegtes Kaninchen anbietet. Das muss es dann irgendwie auch unbedingt sein, was sich als gute Wahl erweist, und so sinke ich einige Stunden später (Die Flandern lassen sich eben schon fast so viel Zeit für das Essen wie die Franzosen) weinselig und satt ins Bett.
Am nächsten Morgen checke ich früh im Hotel aus und verstaue mein Gepäck am Bahnhof im Schließfach, was mich allerdings ein wenig ins Grübeln kommen lässt. Schließfächer mit Schloss und Schlüssel haben sich doch super bewährt und sind auch wenig störanfällig, oder? Die belgische Bahn allerdings setzt auf Elektronik und das Einscannen eines Barcodes, was mich immer ein wenig nervös macht… Wo das jetzt welche Vorteile bringt, erschließt sich mir nicht, aber zum wirklich Grübeln ist der Tag auch zu jung. Ich tauche also wieder ein, in das sich belebende Brügge und da heute Montag ist, ist es auch nicht so touristisch geprägt, sondern von Männern und Frauen, die ihrer Arbeit entgegeneilen. Ich genieße es genau das nicht tun zu müssen und schlendere durch die Straßen, trinke einen Kaffee im Stehen und nehme auch die Außenbezirke mal in Augenschein. Siehe da: Windmühlen… An einem Kanal. Wie nett…
Brügge ist tatsächlich ein sehr ansehnliches Städtchen, das für ein kurzes Wochenende genug zu bieten hat. Gegen Mittag stellt sich Hunger ein und es geht in den Kardinaalshof, weil man sich ja sonst nichts gönnt. Und es wird tatsächlich ein Erlebnis, weil es mein erster zaghafter Ausflug in die Molekularküche wird. Aber da die Chemie sehr dezent eingesetzt wird, werde ich trotzdem satt. Geschmacklich ist die Verdichtung der Aromen natürlich ein Erlebnis, das mich durch den Nachmittag trägt.
Gegen 16:00h breche ich Richtung Antwerpen auf und auch die Elektronik des Schließfaches tut ihren Dienst, so dass die Fahrt mit dem Zug durch Flanderns Felder und Wiesen zum Genuß wird. Die Ankunft in Antwerpen ist kolossal. Ich habe noch nirgends einen solch prachtvollen Bahnhof gesehen. Fantastisch. Ich denke, es war mein alter Geschichtslehrer, der Bahnhöfe, als Kathedralen der Industriegeschichte bezeichnet hat. Wenn das für irgendeinen Bahnhof gilt, dann für den in Antwerpen. Wirklich großartig. Nach angemessenem Staunen verlasse ich den Bahnhof Richtung Innenstadt und gehe mitten durch das weltbekannte Diamantenviertel in dem 80% der Weltdiamanten- produktion umgeschlagen wird. Mir schwirrt natürlich alles durch die Hirse, was es an Halbwissen zu dem Thema gibt: Blutdiamanten; Diktatoren, die sich übers Finanzgeschäft finanzieren; Superreiche, die in Diamanten anlegen etc…. und all die scheine ich in ebendiesem Stadtviertel zu sehen. Eine eigentümlich, interessante Stimmung herrscht dort.
Nach dem Einchecken im Hotel, mache ich mich auf den Weg durch die Stadt, der eigentlich kein Weg ist, sondern ein Stromern mit Stadtplan. Deutlich urbaner als Brügge, weniger pittoresk, wenn auch schön und geschäftiger kommt sie rüber, die Stadt an der Schelde. Und Spaß macht sie auch. Diese Mischung aus jahrhundertealter Hafenstadt, jahrzehntealter Kulturhauptstadt und einer jungen Modeszene ist allenthalben zu spüren. Es gibt viele Straßencafés und Eckkneipen, auf den Plätzen sitzen die Menschen und es gibt jede Menge zu gucken.
Da es schnell Abend wird, sitze ich im Schatten des großen Rathauses und genieße eine Waterzooi, das flandrische Nationalgericht, dass es wie wohl alle Nationalgerichte dieser Welt in unzähligen Varianten gibt. Das Nachtleben der Stadt erschließt sich ob einer urplötzlich eintretenden Bettschwere nicht mehr so ganz, aber es bleiben Blitzlichter von einem regen Treiben auf den Straßen. Und das nicht nur zu Fuß, sondern auch und reichlich mit dem Fahrrad, wobei sowohl der eigenen Drahtesel, als auch Leihfahrräder zum Einsatz kommen, die an fast jeder Ecke zu leihen und zurückzugeben sind. Das Angebot scheint, eben weil es flächendeckend und bequem ist, gut angenommen zu werden. Da könnte sich so manche deutsche Metropole mal ein Beispiel nehmen.
Der Dienstag beginnt spät und nach einem reichhaltigen Frühstück – adäquat zur geografischen Lage Flanderns – mit allem was der Franzose zum petit dejeuner braucht (Bagette, Croissant und Konfitüre) und was der Mitteleuropäer schätzt (Schwarzbrot, Schinken, Käse, Ei) – geht es Richtung altem Hafen, wo ein spektakulärer Museumsneubau entstanden ist und drumrum gerade ein neuer Stadtteil entsteht.
Der Weg führt einmal durch die Innenstadt, die in den Nebenstraßen eine bemerkenswerte Zahl gut geführter Einzelhandelsgeschäfte aufzuweisen hat. Das unvermeidliche Rotlichviertel ist schnell durchschritten, da es doch recht monozentriert aufgestellt ist und ich nicht interessiert bin. Anders dagegen die Kulisse, die sich an Bonaparte- und Willemdok bietet: die alten Hafenbecken, neue und alte Architektur und mittendrin ein imposantes Museum aan de Strom. Vielfalt pur. Das ist zwar keine wirklich gute, aber eine vielleicht hinreichende Begründung dafür, sich den Museumsbesuch geschenkt zu haben. Es gibt so viel im Echten zu sehen. Und an einem herrlichen Morgen die Schelde Richtung Innenstadt zu schlendern, hat schon was.
Und irgendwas zieht mich wieder ins Diamantenviertel. Richtig. Ein Restaurant. Das Lamalo bietet neben aschkenasischer Küche, Gerichte aus der marokkanischen Heimat der Inhaber. Genau das richtige in einer Hafenstadt, die 160 Nationen eine Heimat bietet. Nach dem exotischen Geschmackserlebnis sollte es so weitergehen und deshalb war der Bahnhofsvorplatz schnell gequert und schwupps: Nach gefühlten zwanzig Jahren betrete ich mal wieder einen Zoo. Der Antwerpener Zoo ist der älteste des Landes und weit über Belgiens Grenzen hinaus berühmt. Es gibt allerlei Tiere zu sehen, die in ihrem Verhalten den Menschen nur zu ähnlich scheinen wie Paviane oder Erdmännchen. Tiere, die im deutschen Liedgut eine wichtige Rolle eingenommen haben, sind ebenfalls zu sehen: Okapis und Schabrackentapire.
Nach fast drei Stunden war mir aber wieder mehr nach Menschen und ich mach mich wieder auf dem Weg durch die Stadt. Schlußendlich lande ich im Stadtteil um das Museum der schönen Künste, wo ich einen schönen Abend in einer netten Weinbar, einem anständigen Restaurant, dem „Zoro“ am Leopoldplaats 5 und einer prima Bierkneipe, klugerweise schräg gegenüber meines Hotels, verbrachte. Interessante Gespräche mit Belgiern, die sehr offen waren und mit denen die Verständigung auf Deutsch, Englisch, und brockenweise Spanisch und Französisch ganz anständig klappte, ließen mich ein wenig hinter die Kulissen gucken und rundeten den Kurztrip in Flanderns Städte ab.
Und ich glaube auch, dass ich nicht zum letzten Mal in Flandern gewesen bin!
Nachtrag: Nach so einem Abend um 4:00h aufzustehen, um gegen 5:00h in einem Zug zu sitzen, damit man um 9:30h an einer Maikundgebung teilnehmen kann, ist nicht lustig…