Chanson d’automne

Der November ist immer randvoll mit Veranstaltungen, Tagungen, Festen und Tischrunden, die Gelegenheit geben, die Impulse, die das Jahr so geboten hat, schonmal vorsorglich Revue passieren zu lassen und zu sortieren. Naja, und dieser November hat keine Ausnahme gemacht: Begonnen haben diese bedenkenswerten Tage mit einer IG Metall -Tagung zum derzeit ja außerordentlich beliebten Thema „Industrie 4.0“, das irgendwo zwischen neuem forschungspolitischen Ansatz zur Förderkohleakquise und bereits real existierender industrieller Praxis verortet wird. Es ging weiter mit einem schönen Wanderwochenende mit AltgenossInnen in Schwäbisch Hall, einer Sitzung der Transformateure in München und einem Brotbackkurs auf dem Eichenhof bei Kreuztal, zwei langen Nächten mit meinem Bruder, der aus Reiner Tramperts neuem Buch vorgelesen hat, sowie den Sachs-Betriebsversammlungen in Schweinfurt und der Tutzinger Transformationstagung plus dem daran anschließenden Tutzinger Transformationslabor. Allen Terminen war eigen, dass sie sich mit der Zukunft und der gesellschaftlichen Weiterentwicklung beschäftigt oder auseinandergesetzt haben und auch wenn sie Zusammensetzung und Schwerpunkte unterschieden, ergab sich doch für mich ein roter Faden. Ich möchte allerdings nicht mit diesem roten Faden, sondern mit einer Betrachtung der Weiterentwicklung industrieller Produktionsweise beginnen, da sie mir doch immer noch als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Entwicklungspfade gilt.

Industrie 4.0 oder die Entwicklung der Produktivkräfte

Industrie 4.0 bezeichnet die zunehmende Digitalisierung der Produktwelt, die zunehmende Vernetzung der Produkte untereinander und die Verschmelzung von digitaler und analoger Welt. Digitalisierung der Produktwelt meint beispielsweise die Ausstattung des Laufschuhs mit einem Chip, der Körpergewicht, Abrollverhalten und Schweißausstoß misst. Das wiederum kann vernetzt werden mit der Körperwaage, die Gewicht und Körperfettwerte beisteuert. Das alles ist ganz simpel mit der Armbanduhr vernetzt, die bei einer errechneten Kennzahl außerhalb bestimmter Normalitäten laut piepst und zu mehr Ernährungsdisziplin und Abstinenz auffordert.
Die Verschmelzung von digitaler und analoger Welt, besser dem Entstehen von cyberphysischen System würde in dem Fall bedeuten, dass der Schuh das Abrollverhalten des Fußes steuert, um die Fettverbrennung zu erhöhen…

Wo bleibt die Arbeit?

Dass was im Consumer-Bereich teilweise ja schon durchaus üblich ist, hält nun auch Einzug in die industriellen Produktionsbereiche. Da ist das mit einem RFID-Chip ausgestattete Produkt, das alle Produktionsdaten speichert, aber auch so mit der Logistik vernetzt ist, dass seine Entnahme aus dem Lager einen Bestellprozess auslöst, der keinen Disponenten, sondern nur noch einen Programmierer braucht. Gleichzeitig sind die Maschinen im Herstellprozess hinsichtlich ihrer Aggregatzustände so mit Sensorik ausgestattet, dass der Instandhalter/die Instandhalterin im Leitstand keine Erfahrung mehr benötigt, bzw. keine Aufschreibungen mehr weitervererben kann, sondern nur noch auf das Signal des Rechners warten muss, das einen instandhaltungswürdigen Zustand meldet. Da wo der Mensch im Montageprozess noch gebraucht wird, wird er von cyber-physischen Systemen unterstützt, etwa Handschuhen, die seine Bewegungen unterstützen bzw. steuern. Es kann auch ein Leichtbauroboter sein, der ihm die richtigen Teile an der richtigen Stelle anreicht. Dieser Roboter ist auch nicht mehr in einem Käfig, sondern er ist Teil des Montagearbeitsplatzes.

Es besteht also durchaus die Gefahr, dass die menschliche Arbeit im industriellen Montageprozess weiter entwertet wird und die Gehaltsentwicklung in den Unternehmen stärker als bisher auseinanderläuft. Dagegen gewinnt die logistische Steuerung der Prozesse durchaus an Bedeutung, da sie in Zukunft nicht länger an den Werkstoren endet, sondern die gesamte Wertschöpfungskette in all ihrer Komplexität im Griff haben muss.

Das alles ist nichts neues, sondern in vielen Unternehmen gibt es bereits das ein oder andere Tool, das an das vorher Beschriebene erinnert: e-Kanbans, pick to light-Vormontagen oder auch FTS (führerlose Transportsysteme) und TPM-Tools, die sich aus den Maschinensteuerungen mit Daten versorgen. Worin also besteht die neue Qualität, die sich hinter dem Etikett Industrie 4.0 verbirgt?

Die neue Qualität von Industrie 4.0

Der Vergleich, der auf der schon angesprochenen Tagung gezeigten Präsentationen aus Industrie und Wissenschaft, deutet darauf hin, dass es die Ganzheitlichkeit des Ansatzes, bzw. seine Durchgängigkeit sein soll. Das müsste einen alten Produktionssystemer wie mich nicht sonderlich schrecken, wissen wir doch, dass die ganzheitliche Implementierung eines Systems in deutschen Unternehmen schon an den Grabenkämpfen der Fakultäten (Produktion vs. Qualität vs. Logistik etc.) scheitert, wenn es nicht schon vorher vom mittleren Management zum Privatvergnügen eines Vorstands erklärt wurde.

Und doch gibt es einen kleinen, aber feinen Unterschied. Wurden die Einführung ganzheitlicher Produktionssysteme zu Beginn der 90er (1. Welle) und 2000er Jahre (2. Welle) noch mit Kosteneffizienz begründet, die die konsequente Vermeidung von Verschwendung (Muda) nun einmal mit sich bringt, geht es mit Industrie 4.0 nichtmal so sehr um Kosteneffizienz, sondern darum, mit einem höheren Individualisierungsgrad der Produkte Marktanteile im Massenmarkt zu halten. Die Rede ist davon Losgröße 1 zum Preis industrieller Massenfertigung anbieten zu können. Von Kosteneffizienz ist nur in dem Zusammenhang die Rede, wenn es um die Vermeidung von Lagerbeständen geht, da die Produktion erst mit dem Abschluss der Bestellung startet. (Auch das ist übrigens ein alter Traum der Produktionssysteme a la Toyota)

Exkurs.

An der Stelle sei eine kleine Randbemerkung zum Raumwiderstand erlaubt. Der Endkunde ist durch amazon, zalando etc. an kurze Lieferzeiten gewohnt und auch im industriellen Umfeld verkürzen sich die Lieferzeiten zusehends, was wohl heißt, dass auch mit Industrie 4.0 die Produktion näher an den Kunden oder besser Zielmarkt rücken muss, um eine angemessen kurze Lieferfrist zu wahren. Da hören sich drei Wochen Containertransfer Bremerhaven – Shanghai fast vorsintflutlich an. Von daher steht zu befürchten, dass bei einem schwächelnden europäischen Markt, ein Teil der Produktion peu a peu Richtung Asia-Pacific abwandern wird. Aber egal wo die Fabriken auch stehen, sie werden nach Industrie 4.0-Gesichtspunkten funktionieren und versuchen die individuellen Wünsche der Kunden so schnell wie möglich und mit Massenproduktionspreisen zu erfüllen.

Auf der Tagung selber wurde Kosteneffizienz auch aus anderem Blickwinkel immer wieder verargumentiert. Unter dem Stichwort Ressouceneffizienz wird Industrie 4.0 zur grünen Technologie. Dadurch dass nur dann produziert wird, wenn bestellt wurde und die Bestellung individuell auf den Kunden, die Kundin zugeschnitten ist, ist Industrie 4.0 quasi abfallfrei und ressoucenschonend.

Grüne Fertigungsperspektive oder Kampf um jeden Kunden?

Bis zu diesem Punkt hört sich das Thema Industrie 4.0 ja tatsächlich an, wie ein Märchen. Die deutsche Industrie nimmt Geld in die Hand um kundenorientierter zu fertigen und dabei Umwelt und Rohstoffe stärker als bisher zu schonen. Außerdem werden körperlich anstrengende Arbeiten automatisiert und der Qualifizierungsgrad der Belegschaften insgesamt steigt. Toll, oder?

Naja. Man muss keine K-Gruppen Sozialisation genossen haben, um skeptisch zu werden, weil immerhin noch Kapitalismus ist und das Saulus zu Paulus wurde, ist ja nun auch schon länger her.

Also lohnt sich das Nachdenken darüber, was denn die Produktivkräfte in Richtung Industrie 4.0 treibt. Betrachten wir die Produktionsverhältnisse im Rahmen der industriellen Massenproduktion, kommen Wachstum und Profitrate aus den Skaleneffekten, die die Produktion des Immer Mehr vom Immer Gleichen mit sich bringt.
Nun wird Wachstum im Gegensatz dazu unter Industrie 4.0 als das Immer mehr von Individualisierbaren definiert, was aber zumindest den Schluss zulässt, das Wachstum nur noch zu den höheren Kosten einer individualisierten Produktwelt möglich zu sein scheint. Diese höheren Kosten ergeben sich quasi zwangsläufig aus den Investitionen für die individualisierte Produktion, den logistischen Aufwand den die Individualisierung fordert und dem entsprechenden Materialaufwand.

Was steckt also hinter diesem Aufwand?

Aus der Perspektive eines Wachstumsskeptikers liegt die Vermutung nahe, dass die Wachstumsgesellschaft nur noch wachsen kann, wenn sie die individualisierten Warenwünsche der Konsumenten, also Marktanteile in ihrer kleinsten Einheit, zusammenkratzt und von daher die industrielle Produktion auf eben diese kleinste Einheit zugerichtet werden muss.

Ein Liberaler würde sich vielleicht an der Kundenmacht erfreuen, die die Industrie mit ihren standardisierten Produkten in die Knie gezwungen hat und dich nun Turnschuhe in Gänseblümchenoptik konsumieren lässt und nicht die Allstars in schwarz mit weißen Streifen, die jedeR trägt.

Als halbwegs Intellektueller dreht sich einem dabei natürlich der Magen rum, wenn das Individuum auf die Rolle als Konsument reduziert wird, wie auch immer individualisiert er/sie konsumiert und doch nichts anderes macht, als – in völliger Verkennung seiner/ihrer ureigenen Bedürfnislage – reflexhaft den Verlockungen der Warenwelt zu genügen.

Das alles lässt einen bei dem Thema Industrie 4.0 zunächst mal skeptisch bleiben. Hinzu kommt die ungelöste Frage, wo denn bitte schön all die seltenen Erden und andere Rohstoffe kommen sollen, die ich für eine umfassende Digitalisierung der Waren- und Produktionswelt brauche? Interessant ist das diese Frage in den Diskussionen zu Industrie 4.0 bislang keine Rolle gespielt haben, weil die Protagonisten nicht im Rahmen planetarischer Grenzen agieren, sondern ganz „business as usual“ von der grenzenlosen Ressourcenverfügbarkeit ausgehen, selbst wenn sie mit dem eigentlichen Produktionsmaterial ja ressourcenschonend, d.h. Lagerbestände und Abfallvermeidend, umgehen wollen.

Gesellschaftliche Perspektiven

Soweit, so unschön. Aber nun hält den wissenschaftlich-technischen Fortschritt in seinem Lauf weder Ochs noch Esel auf. Es geht halt nur drum, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten lassen in denen dieser Fortschritt wirkt. Und so lohnt sich das Nachdenken darüber, was aus dem Thema Industrie 4.0 denn im Sinne eines sozial-ökologischen Umbaus werden könnte, sehr wohl.

Aus gewerkschaftlicher Perspektive stehen hier sicherlich die Fragen der Rationalisierungspotentiale und der Qualität, bzw. Struktur der Arbeitsplätze im Vordergrund. Die Rationalisierungspotentiale sind durch einen höheren Automatisierungsgrad der Produktionsprozesse gegeben, genauso wie Digitalisierung der Produkte und Prozesse steuernde und überwachende Tätigkeiten in Logistik und Qualität entwerten kann. Hier wird es darum gehen, die Auseinandersetzung darum, wer denn Ross und wer Reiter ist, nämlich Software oder Mensch, engagiert zu führen. Wird der Mensch zum Anhängsel der Maschine oder behält er die Steuerung wird lediglich assistiert? Eine spannende Frage, die nicht immer leicht zu klären ist und vor allem nicht neu ist. Die Steuerungsoptionen der KollegInnen, die an den Fließbändern stehen, können sich über Industrie 4.0-Technologien gar nicht weiter verschlechtern. Die Frage muss hier vielmehr lauten, ob denn Industrie 4.0-Technologien monotone Menschenarbeit überflüssig machen kann und wenn ja, was aus den Menschen wird, die bislang mit ebenjener monotonen Arbeit ihren Lebensunterhalt verdient haben? Dieselbe Frage stellt sich im Übrigen auch für die Facharbeit etwa von InstandhalterInnen und LogistikerInnen. Deren Arbeit ist in den letzten Jahren durch einen ungeheuren Komplexitätszuwachs einerseits und durch einen Zuwachs standardisierter Aufgaben, die früher von Hilfskräften abgewickelt wurde, andererseits geprägt. Hier wäre die Übernahme standardisierter Arbeiten durch den Kollegen Roboter sicherlich wünschenswert. Leider zielt Industrie 4.0 aber eben auch auf die Steuerung von Komplexität, so dass sie auch die industrielle Facharbeit verändern wird.

An dieser Stelle kommen Gedanken an andere Debatten der letzten Jahre hoch, die den Marsch in die Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft oder auch das Ende der Arbeitsgesellschaft beschworen. Verändert sich die Arbeitswelt und das Arbeitsplätzeangebot durch die technische Innovation aus Industrie 4.0 in die Richtung der weiteren Akademisierung industrieller Arbeit und einer Zunahme von produktionsnahen Dienstleistungen sowie einer zunehmenden Automatisierung industrieller Produktion und dem dadurch erzwungenen Abwandern der Beschäftigten in andere Branchen etwa der personenzentrierten Dienstleistungen in der Alten- und Krankenpflege? Oder bleiben da schlicht eine Menge ArbeitnehmerInnen übrig und werden Hartzer, die sich evtl. ehrenamtlich noch hie und da engagieren und ihr karges Brot mit Urban Gardening und an der Tafel aufwerten?

Politische Hausaufgaben

Das alles sind Fragen, denen wir uns zu stellen haben, wenn wir über die zukünftige Entwicklung von Arbeit und Gesellschaft nachdenken wollen. Wenn wir das auch noch vor dem Hintergrund von Klimawandel und Peak Everything tun wollen, wird das eine sehr grundsätzliche Debatte darum, wie sich der Übergang in postfossile Zeiten denn halbwegs anständig gestalten lässt. Unter halbwegs anständig würde ich gegenwärtig rechtsstaatliche Grundsätze, sozialstaatliche Strukturen und demokratische Prozesse fassen wollen, wobei ich sehr wohl weiß, dass wir auf dem besten Wege sind, alle drei Aspekte zu demontieren. Ob diese Demontage bereits die Anzeichen einer Transformation sind, die in die falsche Richtung läuft oder ob es sich dabei um die Verlängerung des fossilen Endspiels handelt, ist dabei offen. Blöd wäre im Hier und Jetzt beides. Für eine Zukunftsdebatte ist es aber zentral, ob sich einflussreiche Kapitalfraktionen sehr wohl der Herausforderungen der Transformation bewusst sind und in eine für sie handhabbare Richtung steuern oder ob sie diese tatsächlich ignorieren und so weiter machen wie bisher, aber halt zunehmend unter Druck geraten.

In beiden Fällen wäre es hohe Zeit für eine Debatte der fortschrittlichen Kräfte über eine Strategie zur Transformation in Richtung postfossile Gesellschaft. Sie müsste in der Lage sein Graswurzelansätze wie Urban Gardening und Transition Towns mit politischen Projekten wie der Energiewende zu verknüpfen und die Frage ökofairer Produkte und Produktion nicht nur als ein Trikont-Thema behandeln, sondern sie mitten im Herzen industrieller Produktion führen. Damit wären dann soziale Frage und ökologische Fragen anschlussfähig gemacht. Die Ergebnisse des Diskurses auch noch massentauglich und mehrheitsfähig zu gestalten, wäre dann schon ganz großes Kino, geht es doch darum solche Werte wie Glück, Wohlbefinden oder Lebensqualität zu beschreiben und mit einem Verzicht auf Wohlstand, Konsumgüter und bloße Zerstreuung zu begründen. Gleichzeitig wäre wirtschaftspolitisch die Umschichtung der Erwerbsarbeit und das Ende ungeplanten Wachstums durchzusetzen, was Elemente einer zentralen Steuerung haben wird.

Das wird dann eine ganz schwierige Debatte, weil zu klären sein wird, entlang welcher Leitplanken die zentrale Steuerung erfolgt und wo dann die Freiheitsgrade der Graswurzelinitiativen enden. Um das deutlich zu machen, sei mal mein bereits mehrfach strapaziertes Lieblingsbeispiel von der Energieeffizienz der Brotversorgung einer 200.000 Einwohner-Stadt präsentiert:

Der Energieaufwand, diese Vielzahl – in unserer Phantasie wohl wünschenswerten – schnuckeliger Stadtteilbäckereien zu betreiben, ist leider deutlich höher als die entsprechende Brotfabrik, meinetwegen auch von der Hofpfisterei, damit es nicht ganz so unromantisch wird. Und damit sind die kleinen Bäckereien unter Energiegesichtspunkten leider raus…

Hier stehen sich dann Romantizismen und gewollte Dezentralität einerseits und die Logik und Vorteile industrieller Fertigung andererseits gegenüber und müssen vor dem angesprochenen Hintergrund von Klimawandel und Peak Everything entschieden werden. Mit diesem Diskurs ist zwar bereits begonnen worden, doch immer noch laufen die Lager und Szenen eher nebeneinander her, als miteinander ins Gespräch zu kommen. Und dabei gäbe es so viel zu besprechen. Und so viel zu tun. Denn was unabhängig von den Aktivisten von Nöten wäre, ist ja die gesellschaftliche Mobilisierung von Hegemonie, was explizit nicht mit Mehrheit verwechselt werden sollte. Und Hegemonie geht nur mit ausstrahlungsfähigen gesellschaftlichen Bündnissen, wobei gerade das echt schwierig ist: die fortschrittlichen Parteien, so es sie denn noch gibt, sind allesamt mit sich oder ihrer Regierungsfähigkeit beschäftigt, was sie für ein Reformbündnis leider untauglich macht, da so der parlamentarische Arm auf das Engagement einzelner Abgeordneter beschränkt ist. Die Gewerkschaften sind so wie sie sind und hängen am Wachstumstropf. Also wird es auch hier um das Gewinnen einzelner AktivistInnen gehen. Die Kirchen sind aus der Nummer Fortschritt ja schon ein wenig länger raus, auch wenn es hier zu Teilthemen (Frieden, Refugees und Armut, nicht aber zu allen Bereichen der Sexualität) streckenweise ganz anständige Positionen gibt. Also gilt auch hier: Es geht um den Einzelnen!

Daneben sind die Graswurzelinitiativen von Anti-Atom bis Transition Town und Urban Gardening sicherlich richtige PartnerInnen, geradezu geborener Teil, eines solchen Bündnis, auch wenn ihr ausdrücklicher Bezug auf das Hier und Jetzt, der lokale Bezug und ein generelles Misstrauen gegen Politik in tradierten Formen die Zusammenarbeit mit diesen Gruppen manchmal schwierig macht. Dann haben wir noch die BildungsbürgerInnen von den Umweltschutzverbänden über slow food bis hin zu den Landlust-LeserInnen. Die gehen (die Landlust-LeserInnen wahrscheinlich seltener) auch schonmal auf eine Demonstration, haben dagegen oftmals ihre Schwierigkeiten mit einem klassisch linken Lager. Diese Schichten sind aber als prägende Kraft einer wachstumskritischen, postfossilen Hegemonie wichtig, weil deren Lebensstilmodelle oftmals stilprägend sind und aus der Wechselwirkung von Stil, Kultur und Politik oft auch gesellschaftlicher Wandel entstanden ist.

Was bleibt also zu tun? Den FunktionärInnen unter der geneigten Leserschaft sei empfohlen drüber nachzudenken, wie sie ihre Organisation jenseits von Wachstumspfaden, fossilen Rohstoffen und Klimawandel zukunftsfest und enkelsicher gestalten können, den WirtschaftslenkerInnen und Führungskräften, die sich hierhin verirrt haben, sei selbiges für ihre Unternehmen empfohlen. Den GraswurzlerInnen sei ins Stammbuch geschrieben, dass es sich manchmal auch lohnt den großen Wurf zu denken und zu wagen, während ich den Organisationen der alten sozialen Bewegungen raten würde sich hinsichtlich ihrer Kommunikations- und Aktionsformen schleunigst zu modernisieren, was mehr heißt als eine halbseidene Internetpräsenz, die auch von einem Lifestyle-Artikel aus dem Hause Nestle stammen könnte. Manche halten sich diesem neumodischen Teufelszeug auch immer noch gänzlich fern. Das ist aber auch nicht wirklich klug.

Was ich noch mit auf den Weg geben will, ist die Wertschätzung für eben jene anderen Wege der Kommunikation, des Auftritts und der Argumentation. Das hilft nämlich. Wir werden kein Reformbündnis alter Prägung mehr auf die Beine stellen können, weil sich solche Bewegungen heute digital formieren, über Lebensstil in den analogen Alltag transformieren und so Einfluss gewinnen. Dazu gehört evtl. mal ein Sternmarsch, eine Demo oder eine Manifestation. Das ist aber – my opinion – nicht länger das konstituierende Moment, wie es etwa die „Nie wieder Deutschland“-Demo in Frankfurt 1990 war. Es muss also anders gehen, wenn es besser werden soll. Wie es genau gehen soll, weiß ich auch nicht. Aber wir müssen es ausprobieren, müssen spielen und auch Fehler machen.

Dabei dürfen wir nicht aufhören bzw. müssen damit beginnen solidarisch zu sein. Das heißt allerdings nicht, dass wir uns nicht streiten dürfen. Ich hoffe, dieses Papier lädt dazu ein.

Bildet Banden!