Ich bin nach 31 Kilometern Fußmarsch vom Mainfränkischen ins – ist das schon Tauberfranken, wenn die Mehrzahl der Nummernschilder NEA (Neustadt an der Aisch/BadWindsheim) trägt oder ist das nur eben nicht mehr Zuhause? – in Uffenheim gelandet. Achso, nach dieser unseligen Nostalgie- Nummernschildreform fährt das Auto hier natürlich wieder reichlich mit UFF. Aber egal, ich bin ja eh zu Fuß unterwegs.
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1. Etappe: Würzburg – Ochsenfurt
Nun ist es endlich losgegangen. Heute morgen stand ich um halb neun am Würzburger Hauptbahnhof und trabte mit meinem Rucksack durch die erwachende Stadt und die Menschen, die wieder ran müssen. Dabei ist mir das große Geschenk dieser halbjährigen Auszeit nochmal klar geworden. Toll ist das. Also ging ich wohl schon mit einem unschlagbaren Grinsen im Gesicht durch Unterfrankens Metropole, Heimat der Kickers und einfach der besten Stadt der Welt und erntete überall freundliche Gesichter. Was wohl auch damit zusammenhängt, daß ich im Stadtgebiet auf die Stöcke verzichtet habe. Eitel wie ich nunmal bin.
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So langsam geht`s los…
In knapp zehn Tagen geht es los. Ich werde meinen Rucksack schnüren und ein halbes Jahr durch Westeuropa mäandern. Grobe Orientierung ist der älteste touristische Pfad der Welt, der Jakobsweg. Das hat weniger religiöse als, äh, kulturelle Hintergründe und mit Franken, dem Elsaß, Burgund, Navarra und Rioja liegen wohl einige der interessanteren Anbaugebiete auf dem Weg.
Darüber hinaus jährt sich dieser Tage zum achtzigsten Mal der Beginn des spanischen Bürgerkriegs und die Gründung der internationalen Brigaden. Das ich mich diesem Thema besonders verpflichtet fühle, gerade in Zeiten wie diesen, dürfte bekannt sein. Deshalb ist diese Reise auch dem Gedenken an die tapferen Männer und Frauen gewidmet, die sich im Sommer des Jahres 1936 auf den Weg gemacht haben, um der spanischen Republik zur Hilfe zu eilen.
Buen Camino y Venceremos y Salute!
Deutschlehrer. Letzter Weg.
Der Erzähler ist dreihundert Kilometer gefahren. Er parkt sein Auto und betritt die Stadt in der er das Gymnasium besucht hat. Warum besucht man eigentlich eine Schule? Ist man dort zu Gast? Komisch. Oder man geht aufs Gymnasium. Das scheint der Sache schon näher zu kommen, geht man doch zumindest im Westfälischen auch auf Maloche, auf Arbeit, auf Zeche. Egal. Wie lange ist er nicht mehr hier gewesen? Einiges scheint neu, einiges instandgesetzt und einiges beim Alten. Der Gasthof am Marktplatz, das Rathaus, die Kirche. Der Platz an sich wirkt immer noch so überdimensioniert wie zu Schulzeiten. Heute allerdings bietet der Platz ein bizarres Schauspiel. Männer verschiedenen Alters, die sich nicht kennen, gekleidet in dunklen Anzügen, schreiten den Platz unabhängig voneinander irgendwo zwischen Vertrautheit und touristischer Neugier ab. Einer sitzt auf der Terrasse des Gasthofs und isst ein Krüstchen, dieser Versuch einer regionalen Spezialität in diesen Gegenden, die sonst keine haben. Der Esser entschuldigt sich auch fast, indem er darauf verweist, das schon so lange nicht mehr gegessen zu haben. Der Erzähler, den es in eine Weingegend verschlagen hat, denkt sich, dass er dabei nichts verpasst hat. Trotz dieser kulinarischen Arroganz umweht ihn aber ein Hauch von Traurigkeit, weil er genau hier seine Jugend verbracht hat. Hier war er Schüler und hat sich ausprobiert und ausprobieren dürfen, ist geprägt worden und – was wahrscheinlich das wichtigste ist – war eingebettet in eine Horde Gleichaltriger, die erst im soziologischen Seminar zur peer group wurde, vorher aber beste Kumpels waren.
Es ist Zeit zu gehen. 13:30h geht es los. Der hochverehrte Deutschlehrer soll heute unter die Erde gebracht werden. Langsam geht es zur Friedhofskapelle, wo einige ganz frühe Trauernde schon warten. Es kennen sich nicht viele und sie sind nicht in Trauer vereint, sondern vielmehr durch die Erinnerung an und die Prägung durch diesen Mann. Die Versammelten; Abiturjahrgänge aus den frühen 70er Jahren, genauso wie solche aus den 80er und 90er Jahren, sind vorzugsweise Männer, die in ihrer Trauer auf Augenhöhe sind und in ihrem Alter Väter und Söhne sein könnten. Jahrgangskameraden lassen gemeinsam Erlebtes Revue passieren und kurz flammt hier und da auch Feuerzangenbowlenheiterkeit auf, die sich aber dem Anlass gemäß schnell wieder verflüchtigt.
Die Musik setzt ein und es beginnt. Die anscheinend im kirchlichen Umfeld unvermeidliche weibliche Ehrenamtlerin lädt engagiert ins Gebäude ein. Ein Angebot, dass die konsequent Säkularisierten ausschlagen, um den Reden bei bestem Wetter und guter Übertragungsqualität im Freien zu folgen. Es ist ein schöner Herbsttag und über dem Friedhof liegt ein Farbenspiel zwischen indian summer und goldner Oktober, also gelb-rostrot. Der Priester, auch ein Schüler des zu Grabe zu Tragenden, macht den Aufschlag und begrüßt die Versammelten. Dem Erzähler scheint es als ob er mit allerlei christlichen Bezügen vermeiden will, persönlich zu werden. Leichtes Unbehagen macht sich breit, ob das denn angemessen ist. Dann tritt ein Schüler, der wohl Anfang der 90er Jahre Abitur gemacht hat, ans Mikrofon und das Unbehagen verschwindet. Eine Laudatio, die den Ton trifft und den Deutschlehrer für den Dauer der Rede wieder reanimiert. Eine wirklich große Rede. Er war, er ist, er bleibt. Und zwar eben nicht als Körper, sondern als Idee, als gemeinsamer Gedanke. Der Erzähler ist versöhnt und nimmt die Replik des Priesters gelassen hin.
Trauerzug. Der letzte Weg. Die erklecklich große Menge schiebt sich hinter dem Sarg den Hang hinauf und vorm herabgelassenen Sarg nutzen viele die letzte Gelegenheit zur Zwiesprache zwischen Schüler und Lehrer. Dem Erzähler ist es als wenn er wieder im Treppenhaus des alten Schulgebäudes steht und versucht zu erklären, warum er keine Hausaufgaben hat. Hier geht es aber um mehr. Er hat den Lehrer seit vielen Jahren – nach einigen zufälligen Begegnungen an der Hochschule – nicht mehr gesehen; die Begegnung nicht gesucht. Und die Todesnachricht und die Beerdigung hat ihm gezeigt, was er hätte finden können: Das Gespräch, den Streit um den guten Gedanken, die beste Argumentation eben nicht um etwas im Operativen, sondern im Wertigen, im Betrachten der Welt als einem Spiegel des Denkens. Mit diesem Gedanken scheint der Erzähler nicht alleine zu sein und er genießt dieses Aufgehobensein im Kreise Gleicher. Diese schicken sich an, über das übliche Kaffeetrinken hinaus Gelegenheit zu suchen, bei Bacchus Trost zu finden. Der Erzähler verabschiedet sich und fährt dreihundert Kilometer. Grübelnd. Über alles, was sich bietet und letzte Wege, die zu gehen wären. Gemeinsam zu gehen wären…
Chanson d’automne
Der November ist immer randvoll mit Veranstaltungen, Tagungen, Festen und Tischrunden, die Gelegenheit geben, die Impulse, die das Jahr so geboten hat, schonmal vorsorglich Revue passieren zu lassen und zu sortieren. Naja, und dieser November hat keine Ausnahme gemacht: Begonnen haben diese bedenkenswerten Tage mit einer IG Metall -Tagung zum derzeit ja außerordentlich beliebten Thema „Industrie 4.0“, das irgendwo zwischen neuem forschungspolitischen Ansatz zur Förderkohleakquise und bereits real existierender industrieller Praxis verortet wird. Es ging weiter mit einem schönen Wanderwochenende mit AltgenossInnen in Schwäbisch Hall, einer Sitzung der Transformateure in München und einem Brotbackkurs auf dem Eichenhof bei Kreuztal, zwei langen Nächten mit meinem Bruder, der aus Reiner Tramperts neuem Buch vorgelesen hat, sowie den Sachs-Betriebsversammlungen in Schweinfurt und der Tutzinger Transformationstagung plus dem daran anschließenden Tutzinger Transformationslabor. Allen Terminen war eigen, dass sie sich mit der Zukunft und der gesellschaftlichen Weiterentwicklung beschäftigt oder auseinandergesetzt haben und auch wenn sie Zusammensetzung und Schwerpunkte unterschieden, ergab sich doch für mich ein roter Faden. Ich möchte allerdings nicht mit diesem roten Faden, sondern mit einer Betrachtung der Weiterentwicklung industrieller Produktionsweise beginnen, da sie mir doch immer noch als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Entwicklungspfade gilt.
Industrie 4.0 oder die Entwicklung der Produktivkräfte
Industrie 4.0 bezeichnet die zunehmende Digitalisierung der Produktwelt, die zunehmende Vernetzung der Produkte untereinander und die Verschmelzung von digitaler und analoger Welt. Digitalisierung der Produktwelt meint beispielsweise die Ausstattung des Laufschuhs mit einem Chip, der Körpergewicht, Abrollverhalten und Schweißausstoß misst. Das wiederum kann vernetzt werden mit der Körperwaage, die Gewicht und Körperfettwerte beisteuert. Das alles ist ganz simpel mit der Armbanduhr vernetzt, die bei einer errechneten Kennzahl außerhalb bestimmter Normalitäten laut piepst und zu mehr Ernährungsdisziplin und Abstinenz auffordert.
Die Verschmelzung von digitaler und analoger Welt, besser dem Entstehen von cyberphysischen System würde in dem Fall bedeuten, dass der Schuh das Abrollverhalten des Fußes steuert, um die Fettverbrennung zu erhöhen…
Wo bleibt die Arbeit?
Dass was im Consumer-Bereich teilweise ja schon durchaus üblich ist, hält nun auch Einzug in die industriellen Produktionsbereiche. Da ist das mit einem RFID-Chip ausgestattete Produkt, das alle Produktionsdaten speichert, aber auch so mit der Logistik vernetzt ist, dass seine Entnahme aus dem Lager einen Bestellprozess auslöst, der keinen Disponenten, sondern nur noch einen Programmierer braucht. Gleichzeitig sind die Maschinen im Herstellprozess hinsichtlich ihrer Aggregatzustände so mit Sensorik ausgestattet, dass der Instandhalter/die Instandhalterin im Leitstand keine Erfahrung mehr benötigt, bzw. keine Aufschreibungen mehr weitervererben kann, sondern nur noch auf das Signal des Rechners warten muss, das einen instandhaltungswürdigen Zustand meldet. Da wo der Mensch im Montageprozess noch gebraucht wird, wird er von cyber-physischen Systemen unterstützt, etwa Handschuhen, die seine Bewegungen unterstützen bzw. steuern. Es kann auch ein Leichtbauroboter sein, der ihm die richtigen Teile an der richtigen Stelle anreicht. Dieser Roboter ist auch nicht mehr in einem Käfig, sondern er ist Teil des Montagearbeitsplatzes.
Es besteht also durchaus die Gefahr, dass die menschliche Arbeit im industriellen Montageprozess weiter entwertet wird und die Gehaltsentwicklung in den Unternehmen stärker als bisher auseinanderläuft. Dagegen gewinnt die logistische Steuerung der Prozesse durchaus an Bedeutung, da sie in Zukunft nicht länger an den Werkstoren endet, sondern die gesamte Wertschöpfungskette in all ihrer Komplexität im Griff haben muss.
Das alles ist nichts neues, sondern in vielen Unternehmen gibt es bereits das ein oder andere Tool, das an das vorher Beschriebene erinnert: e-Kanbans, pick to light-Vormontagen oder auch FTS (führerlose Transportsysteme) und TPM-Tools, die sich aus den Maschinensteuerungen mit Daten versorgen. Worin also besteht die neue Qualität, die sich hinter dem Etikett Industrie 4.0 verbirgt?
Die neue Qualität von Industrie 4.0
Der Vergleich, der auf der schon angesprochenen Tagung gezeigten Präsentationen aus Industrie und Wissenschaft, deutet darauf hin, dass es die Ganzheitlichkeit des Ansatzes, bzw. seine Durchgängigkeit sein soll. Das müsste einen alten Produktionssystemer wie mich nicht sonderlich schrecken, wissen wir doch, dass die ganzheitliche Implementierung eines Systems in deutschen Unternehmen schon an den Grabenkämpfen der Fakultäten (Produktion vs. Qualität vs. Logistik etc.) scheitert, wenn es nicht schon vorher vom mittleren Management zum Privatvergnügen eines Vorstands erklärt wurde.
Und doch gibt es einen kleinen, aber feinen Unterschied. Wurden die Einführung ganzheitlicher Produktionssysteme zu Beginn der 90er (1. Welle) und 2000er Jahre (2. Welle) noch mit Kosteneffizienz begründet, die die konsequente Vermeidung von Verschwendung (Muda) nun einmal mit sich bringt, geht es mit Industrie 4.0 nichtmal so sehr um Kosteneffizienz, sondern darum, mit einem höheren Individualisierungsgrad der Produkte Marktanteile im Massenmarkt zu halten. Die Rede ist davon Losgröße 1 zum Preis industrieller Massenfertigung anbieten zu können. Von Kosteneffizienz ist nur in dem Zusammenhang die Rede, wenn es um die Vermeidung von Lagerbeständen geht, da die Produktion erst mit dem Abschluss der Bestellung startet. (Auch das ist übrigens ein alter Traum der Produktionssysteme a la Toyota)
Exkurs.
An der Stelle sei eine kleine Randbemerkung zum Raumwiderstand erlaubt. Der Endkunde ist durch amazon, zalando etc. an kurze Lieferzeiten gewohnt und auch im industriellen Umfeld verkürzen sich die Lieferzeiten zusehends, was wohl heißt, dass auch mit Industrie 4.0 die Produktion näher an den Kunden oder besser Zielmarkt rücken muss, um eine angemessen kurze Lieferfrist zu wahren. Da hören sich drei Wochen Containertransfer Bremerhaven – Shanghai fast vorsintflutlich an. Von daher steht zu befürchten, dass bei einem schwächelnden europäischen Markt, ein Teil der Produktion peu a peu Richtung Asia-Pacific abwandern wird. Aber egal wo die Fabriken auch stehen, sie werden nach Industrie 4.0-Gesichtspunkten funktionieren und versuchen die individuellen Wünsche der Kunden so schnell wie möglich und mit Massenproduktionspreisen zu erfüllen.
Auf der Tagung selber wurde Kosteneffizienz auch aus anderem Blickwinkel immer wieder verargumentiert. Unter dem Stichwort Ressouceneffizienz wird Industrie 4.0 zur grünen Technologie. Dadurch dass nur dann produziert wird, wenn bestellt wurde und die Bestellung individuell auf den Kunden, die Kundin zugeschnitten ist, ist Industrie 4.0 quasi abfallfrei und ressoucenschonend.
Grüne Fertigungsperspektive oder Kampf um jeden Kunden?
Bis zu diesem Punkt hört sich das Thema Industrie 4.0 ja tatsächlich an, wie ein Märchen. Die deutsche Industrie nimmt Geld in die Hand um kundenorientierter zu fertigen und dabei Umwelt und Rohstoffe stärker als bisher zu schonen. Außerdem werden körperlich anstrengende Arbeiten automatisiert und der Qualifizierungsgrad der Belegschaften insgesamt steigt. Toll, oder?
Naja. Man muss keine K-Gruppen Sozialisation genossen haben, um skeptisch zu werden, weil immerhin noch Kapitalismus ist und das Saulus zu Paulus wurde, ist ja nun auch schon länger her.
Also lohnt sich das Nachdenken darüber, was denn die Produktivkräfte in Richtung Industrie 4.0 treibt. Betrachten wir die Produktionsverhältnisse im Rahmen der industriellen Massenproduktion, kommen Wachstum und Profitrate aus den Skaleneffekten, die die Produktion des Immer Mehr vom Immer Gleichen mit sich bringt.
Nun wird Wachstum im Gegensatz dazu unter Industrie 4.0 als das Immer mehr von Individualisierbaren definiert, was aber zumindest den Schluss zulässt, das Wachstum nur noch zu den höheren Kosten einer individualisierten Produktwelt möglich zu sein scheint. Diese höheren Kosten ergeben sich quasi zwangsläufig aus den Investitionen für die individualisierte Produktion, den logistischen Aufwand den die Individualisierung fordert und dem entsprechenden Materialaufwand.
Was steckt also hinter diesem Aufwand?
Aus der Perspektive eines Wachstumsskeptikers liegt die Vermutung nahe, dass die Wachstumsgesellschaft nur noch wachsen kann, wenn sie die individualisierten Warenwünsche der Konsumenten, also Marktanteile in ihrer kleinsten Einheit, zusammenkratzt und von daher die industrielle Produktion auf eben diese kleinste Einheit zugerichtet werden muss.
Ein Liberaler würde sich vielleicht an der Kundenmacht erfreuen, die die Industrie mit ihren standardisierten Produkten in die Knie gezwungen hat und dich nun Turnschuhe in Gänseblümchenoptik konsumieren lässt und nicht die Allstars in schwarz mit weißen Streifen, die jedeR trägt.
Als halbwegs Intellektueller dreht sich einem dabei natürlich der Magen rum, wenn das Individuum auf die Rolle als Konsument reduziert wird, wie auch immer individualisiert er/sie konsumiert und doch nichts anderes macht, als – in völliger Verkennung seiner/ihrer ureigenen Bedürfnislage – reflexhaft den Verlockungen der Warenwelt zu genügen.
Das alles lässt einen bei dem Thema Industrie 4.0 zunächst mal skeptisch bleiben. Hinzu kommt die ungelöste Frage, wo denn bitte schön all die seltenen Erden und andere Rohstoffe kommen sollen, die ich für eine umfassende Digitalisierung der Waren- und Produktionswelt brauche? Interessant ist das diese Frage in den Diskussionen zu Industrie 4.0 bislang keine Rolle gespielt haben, weil die Protagonisten nicht im Rahmen planetarischer Grenzen agieren, sondern ganz „business as usual“ von der grenzenlosen Ressourcenverfügbarkeit ausgehen, selbst wenn sie mit dem eigentlichen Produktionsmaterial ja ressourcenschonend, d.h. Lagerbestände und Abfallvermeidend, umgehen wollen.
Gesellschaftliche Perspektiven
Soweit, so unschön. Aber nun hält den wissenschaftlich-technischen Fortschritt in seinem Lauf weder Ochs noch Esel auf. Es geht halt nur drum, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten lassen in denen dieser Fortschritt wirkt. Und so lohnt sich das Nachdenken darüber, was aus dem Thema Industrie 4.0 denn im Sinne eines sozial-ökologischen Umbaus werden könnte, sehr wohl.
Aus gewerkschaftlicher Perspektive stehen hier sicherlich die Fragen der Rationalisierungspotentiale und der Qualität, bzw. Struktur der Arbeitsplätze im Vordergrund. Die Rationalisierungspotentiale sind durch einen höheren Automatisierungsgrad der Produktionsprozesse gegeben, genauso wie Digitalisierung der Produkte und Prozesse steuernde und überwachende Tätigkeiten in Logistik und Qualität entwerten kann. Hier wird es darum gehen, die Auseinandersetzung darum, wer denn Ross und wer Reiter ist, nämlich Software oder Mensch, engagiert zu führen. Wird der Mensch zum Anhängsel der Maschine oder behält er die Steuerung wird lediglich assistiert? Eine spannende Frage, die nicht immer leicht zu klären ist und vor allem nicht neu ist. Die Steuerungsoptionen der KollegInnen, die an den Fließbändern stehen, können sich über Industrie 4.0-Technologien gar nicht weiter verschlechtern. Die Frage muss hier vielmehr lauten, ob denn Industrie 4.0-Technologien monotone Menschenarbeit überflüssig machen kann und wenn ja, was aus den Menschen wird, die bislang mit ebenjener monotonen Arbeit ihren Lebensunterhalt verdient haben? Dieselbe Frage stellt sich im Übrigen auch für die Facharbeit etwa von InstandhalterInnen und LogistikerInnen. Deren Arbeit ist in den letzten Jahren durch einen ungeheuren Komplexitätszuwachs einerseits und durch einen Zuwachs standardisierter Aufgaben, die früher von Hilfskräften abgewickelt wurde, andererseits geprägt. Hier wäre die Übernahme standardisierter Arbeiten durch den Kollegen Roboter sicherlich wünschenswert. Leider zielt Industrie 4.0 aber eben auch auf die Steuerung von Komplexität, so dass sie auch die industrielle Facharbeit verändern wird.
An dieser Stelle kommen Gedanken an andere Debatten der letzten Jahre hoch, die den Marsch in die Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft oder auch das Ende der Arbeitsgesellschaft beschworen. Verändert sich die Arbeitswelt und das Arbeitsplätzeangebot durch die technische Innovation aus Industrie 4.0 in die Richtung der weiteren Akademisierung industrieller Arbeit und einer Zunahme von produktionsnahen Dienstleistungen sowie einer zunehmenden Automatisierung industrieller Produktion und dem dadurch erzwungenen Abwandern der Beschäftigten in andere Branchen etwa der personenzentrierten Dienstleistungen in der Alten- und Krankenpflege? Oder bleiben da schlicht eine Menge ArbeitnehmerInnen übrig und werden Hartzer, die sich evtl. ehrenamtlich noch hie und da engagieren und ihr karges Brot mit Urban Gardening und an der Tafel aufwerten?
Politische Hausaufgaben
Das alles sind Fragen, denen wir uns zu stellen haben, wenn wir über die zukünftige Entwicklung von Arbeit und Gesellschaft nachdenken wollen. Wenn wir das auch noch vor dem Hintergrund von Klimawandel und Peak Everything tun wollen, wird das eine sehr grundsätzliche Debatte darum, wie sich der Übergang in postfossile Zeiten denn halbwegs anständig gestalten lässt. Unter halbwegs anständig würde ich gegenwärtig rechtsstaatliche Grundsätze, sozialstaatliche Strukturen und demokratische Prozesse fassen wollen, wobei ich sehr wohl weiß, dass wir auf dem besten Wege sind, alle drei Aspekte zu demontieren. Ob diese Demontage bereits die Anzeichen einer Transformation sind, die in die falsche Richtung läuft oder ob es sich dabei um die Verlängerung des fossilen Endspiels handelt, ist dabei offen. Blöd wäre im Hier und Jetzt beides. Für eine Zukunftsdebatte ist es aber zentral, ob sich einflussreiche Kapitalfraktionen sehr wohl der Herausforderungen der Transformation bewusst sind und in eine für sie handhabbare Richtung steuern oder ob sie diese tatsächlich ignorieren und so weiter machen wie bisher, aber halt zunehmend unter Druck geraten.
In beiden Fällen wäre es hohe Zeit für eine Debatte der fortschrittlichen Kräfte über eine Strategie zur Transformation in Richtung postfossile Gesellschaft. Sie müsste in der Lage sein Graswurzelansätze wie Urban Gardening und Transition Towns mit politischen Projekten wie der Energiewende zu verknüpfen und die Frage ökofairer Produkte und Produktion nicht nur als ein Trikont-Thema behandeln, sondern sie mitten im Herzen industrieller Produktion führen. Damit wären dann soziale Frage und ökologische Fragen anschlussfähig gemacht. Die Ergebnisse des Diskurses auch noch massentauglich und mehrheitsfähig zu gestalten, wäre dann schon ganz großes Kino, geht es doch darum solche Werte wie Glück, Wohlbefinden oder Lebensqualität zu beschreiben und mit einem Verzicht auf Wohlstand, Konsumgüter und bloße Zerstreuung zu begründen. Gleichzeitig wäre wirtschaftspolitisch die Umschichtung der Erwerbsarbeit und das Ende ungeplanten Wachstums durchzusetzen, was Elemente einer zentralen Steuerung haben wird.
Das wird dann eine ganz schwierige Debatte, weil zu klären sein wird, entlang welcher Leitplanken die zentrale Steuerung erfolgt und wo dann die Freiheitsgrade der Graswurzelinitiativen enden. Um das deutlich zu machen, sei mal mein bereits mehrfach strapaziertes Lieblingsbeispiel von der Energieeffizienz der Brotversorgung einer 200.000 Einwohner-Stadt präsentiert:
Der Energieaufwand, diese Vielzahl – in unserer Phantasie wohl wünschenswerten – schnuckeliger Stadtteilbäckereien zu betreiben, ist leider deutlich höher als die entsprechende Brotfabrik, meinetwegen auch von der Hofpfisterei, damit es nicht ganz so unromantisch wird. Und damit sind die kleinen Bäckereien unter Energiegesichtspunkten leider raus…
Hier stehen sich dann Romantizismen und gewollte Dezentralität einerseits und die Logik und Vorteile industrieller Fertigung andererseits gegenüber und müssen vor dem angesprochenen Hintergrund von Klimawandel und Peak Everything entschieden werden. Mit diesem Diskurs ist zwar bereits begonnen worden, doch immer noch laufen die Lager und Szenen eher nebeneinander her, als miteinander ins Gespräch zu kommen. Und dabei gäbe es so viel zu besprechen. Und so viel zu tun. Denn was unabhängig von den Aktivisten von Nöten wäre, ist ja die gesellschaftliche Mobilisierung von Hegemonie, was explizit nicht mit Mehrheit verwechselt werden sollte. Und Hegemonie geht nur mit ausstrahlungsfähigen gesellschaftlichen Bündnissen, wobei gerade das echt schwierig ist: die fortschrittlichen Parteien, so es sie denn noch gibt, sind allesamt mit sich oder ihrer Regierungsfähigkeit beschäftigt, was sie für ein Reformbündnis leider untauglich macht, da so der parlamentarische Arm auf das Engagement einzelner Abgeordneter beschränkt ist. Die Gewerkschaften sind so wie sie sind und hängen am Wachstumstropf. Also wird es auch hier um das Gewinnen einzelner AktivistInnen gehen. Die Kirchen sind aus der Nummer Fortschritt ja schon ein wenig länger raus, auch wenn es hier zu Teilthemen (Frieden, Refugees und Armut, nicht aber zu allen Bereichen der Sexualität) streckenweise ganz anständige Positionen gibt. Also gilt auch hier: Es geht um den Einzelnen!
Daneben sind die Graswurzelinitiativen von Anti-Atom bis Transition Town und Urban Gardening sicherlich richtige PartnerInnen, geradezu geborener Teil, eines solchen Bündnis, auch wenn ihr ausdrücklicher Bezug auf das Hier und Jetzt, der lokale Bezug und ein generelles Misstrauen gegen Politik in tradierten Formen die Zusammenarbeit mit diesen Gruppen manchmal schwierig macht. Dann haben wir noch die BildungsbürgerInnen von den Umweltschutzverbänden über slow food bis hin zu den Landlust-LeserInnen. Die gehen (die Landlust-LeserInnen wahrscheinlich seltener) auch schonmal auf eine Demonstration, haben dagegen oftmals ihre Schwierigkeiten mit einem klassisch linken Lager. Diese Schichten sind aber als prägende Kraft einer wachstumskritischen, postfossilen Hegemonie wichtig, weil deren Lebensstilmodelle oftmals stilprägend sind und aus der Wechselwirkung von Stil, Kultur und Politik oft auch gesellschaftlicher Wandel entstanden ist.
Was bleibt also zu tun? Den FunktionärInnen unter der geneigten Leserschaft sei empfohlen drüber nachzudenken, wie sie ihre Organisation jenseits von Wachstumspfaden, fossilen Rohstoffen und Klimawandel zukunftsfest und enkelsicher gestalten können, den WirtschaftslenkerInnen und Führungskräften, die sich hierhin verirrt haben, sei selbiges für ihre Unternehmen empfohlen. Den GraswurzlerInnen sei ins Stammbuch geschrieben, dass es sich manchmal auch lohnt den großen Wurf zu denken und zu wagen, während ich den Organisationen der alten sozialen Bewegungen raten würde sich hinsichtlich ihrer Kommunikations- und Aktionsformen schleunigst zu modernisieren, was mehr heißt als eine halbseidene Internetpräsenz, die auch von einem Lifestyle-Artikel aus dem Hause Nestle stammen könnte. Manche halten sich diesem neumodischen Teufelszeug auch immer noch gänzlich fern. Das ist aber auch nicht wirklich klug.
Was ich noch mit auf den Weg geben will, ist die Wertschätzung für eben jene anderen Wege der Kommunikation, des Auftritts und der Argumentation. Das hilft nämlich. Wir werden kein Reformbündnis alter Prägung mehr auf die Beine stellen können, weil sich solche Bewegungen heute digital formieren, über Lebensstil in den analogen Alltag transformieren und so Einfluss gewinnen. Dazu gehört evtl. mal ein Sternmarsch, eine Demo oder eine Manifestation. Das ist aber – my opinion – nicht länger das konstituierende Moment, wie es etwa die „Nie wieder Deutschland“-Demo in Frankfurt 1990 war. Es muss also anders gehen, wenn es besser werden soll. Wie es genau gehen soll, weiß ich auch nicht. Aber wir müssen es ausprobieren, müssen spielen und auch Fehler machen.
Dabei dürfen wir nicht aufhören bzw. müssen damit beginnen solidarisch zu sein. Das heißt allerdings nicht, dass wir uns nicht streiten dürfen. Ich hoffe, dieses Papier lädt dazu ein.
Bildet Banden!
Der Winterurlaub in den Zeiten des Klimawandels
Nun hocke ich wieder an meinem Schreibtisch und komme endlich dazu, die vergangene Woche zu reflektieren. Ich war in Tirol am Pillersee, um ein wenig auszuspannen und zu wandern bzw. langzulaufen. Der alpinen Abfahrt kann ich weder beim Zuschauen, noch beim Selbertun etwas abgewinnen.
Jahreszeitlich bedingt, bin ich von reichlich Schnee ausgegangen. Kein Wunder, bei den Höhenmetern. Die Landschaft stellte sich jedoch schon fast frühlingshaft dar und bis auf einige schattige Seitentäler war der Langlauf nicht unmöglich, sondern eine ästhetische Zumutung! Die ästhetische Zumutung besteht darin, in einer frühlingshaften Umgebung mit grünen Wiesen und ersten blühenden Blumen auf einem weißen Band durch die Gegend zu rutschen. Es hatte eine zutiefst künstliche Anmutung wie die Menschen einen Wintersport ohne Winter ausüben. Die Ignoranz gegenüber den natürlichen Gegebenheiten, die daraus gelesen werden kann, eröffnet einige weitere Fragen.
- Was wird aus den Wintersportregionen und den dort arbeitenden Menschen, wenn der Winter mit Schnee und Skilauf ausfällt und damit auch die Touristen fernbleiben?
- Was machen die Menschen, die mit dem touristischen Angebot des Winterurlaubs entfremdete Arbeit kompensieren und sich erholen, wenn der Winter ohne Schnee ihre Bedürfnisse nicht länger deckt?
Insbesondere die zweite Frage scheint eine Frage kulturellen Wandels zu sein. Irgendwo kommen die Bilder im Kopf ja her, dass es im Winter kalt ist, der Niederschlag in Form von Schnee fällt und Ski gefahren werden muss. Wie ich im Gespräch mit lieben Freunden neulich lernen musste, ist es sogar ein Akt kultureller Überwindung im Winter auf die entsprechende Kleidung zu verzichten, weil es schlicht zu warm für die dicke Jacke ist.
Was fehlt ist wohl die Kompetenz zur Demut gegenüber Temperatur, Niederschlag und allgemeiner Wetterlage und die Flexibilität das Gegebene hinzunehmen. Das sind nun allerdings zwei Kompetenzen, die in der Moderne wenig angesehen sind, was fatal sein kann. Denn dadurch sieht es so aus, als dass die Verlängerung des Endspiels mit noch mehr Schneekanonen, mit Schneetransporten und der Erschließung von Skigebieten in höheren Lagen mit vermeintlicher Schneesicherheit unvermeidlich ist. Die weitere Zerstörung des Alpenraums ist damit absehbar. Das kann niemand wollen, weshalb die Frage nach dem Winterurlaub in postfossilen Zeiten ja ihre Berechtigung hat. Die stellt sich im Übrigen nicht nur für den Winterurlaub, sondern auch für die Sommerfrische. Aber die kommt ja erst…
Neben diesen eher grundsätzlichen Grübeleien, war es aber eine rundum erholsame Woche mit Spaziergängen im Sonnenschein, gutem Food regionaler und handwerklicher Erzeuger und leckeren österreichischen Weinen!
Alle Räder drehen sich, weil sie sich drehen sollen…
Montagmorgen. 6:00h. Workshop mit einer Fertigungsgruppe zum Thema „Gesundheits-KVP am Arbeitsplatz“. Es geht darum in einem selbstorganisierten Prozess gesundheitsförderliche Maßnahmen am Arbeitsplatz zu definieren. Und das alles nach einem inspirierenden Wochenende in Tutzing , wo es um die erfolgreichen Wege zur Transformation gegangen ist. Natürlich hängt mir das nach. Und natürlich frage ich mich, ob ich mit der Priorisierung der Mitarbeitergesundheit zur Optimierung der Verwertungsbedingungen im Sinne von „Business as Usual“ beitrage oder schon einen kleinen Schritt zur Transformation gehe, weil die Mitarbeiter lernen sich selber und ihre Gesundheit ernst zu nehmen und auf Lebensqualität zu achten.
Es war eh sehr beeindruckend, dass im Laufe der Tagung immer klarer wurde, dass die soziale und die ökologische Frage zusammengehören wie eineiige Zwillinge. Die soziale Frage lautet dabei eben nicht nur, wohin mit der Arbeit, wenn die Ressourcen knapp werden oder schon dann, wenn wir es eventuell früher schaffen, auch Industrie und Wirtschaft nicht nur ob des Ressourcenverbrauch beim Herstellen, sondern im Hinblick auf Produkte und Konsum ökologisch auszurichten.
Es geht vielmehr um das gute Leben, jenseits von Konsumterror, Leistungswahn und der Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche. Und da gehört Gesundheit doch unbestritten dazu. Bin ich also doch richtig unterwegs, oder? Wahrscheinlich schon, denn die Transformation ins Postfossile ist ja mehr als der Verzicht auf fossile Brennstoffe, sondern es ist eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, weil diese Gesellschaft auf reichlich, billigem Öl gebaut ist.
Diese Umwälzung in all ihren Facetten zu erfassen, ist schier unmöglich, aber Jeder und Jede kann aus seinem Umfeld dazu beitragen. Und knapp 100 TeilnehmerInnen haben sich deshalb ein Wochenende lang auf die Suche nach Wegen zur Großen Transformation gemacht, und mussten dann feststellen, dass es diese Wege (noch) nicht gibt, sondern höchstens einige Gleise in die richtige Richtung gelegt werden können, was im Rahmen der Tagung auch geschah. Schön war aber dabei das Bild des Schmetterlings, der in einem nicht linearen System mit seinem Flügelschlag auch ein Gewitter auslösen kann. Das hat – mir zumindest – trotz der Größe der Herausforderung die Zuversicht gegeben, dass sich unser Tun schon lohnen wird. Es lohnt eben auch das Kleine, scheinbar Private und Individuelle.
Aber es gilt natürlich auch die großen Räder zu drehen. Energie-, Mobilitäts- und Industriewende wurden beispielhaft verhandelt und lebhaft diskutiert. Überall gibt es bereits gute Ansätze, aber dem Auditorium war immer anzumerken, dass es eigentlich zu langsam und in zu kleinen Schritten voran geht. Das war besonders dem Vortrag zu Friedenspolitik und Transformation anzumerken, der auf beklemmende Weise deutlich machte, dass bereits heute Kriege geführt werden und Menschen sterben, weil Ressourcen, sei es Öl, sei es Wasser, knapper werden.
Große Räder, die sich drehen. Kleine Schritte, die getan werden, Schmetterlinge, die fliegen. 100 Leute, die an einem Wochenende in Tutzing Gleise in Richtung Große Transformation gelegt haben. Es war inspirierend und ermutigend. Die Tagung hat Kraft gegeben an der Selbstverliebtheit des „Business as usual“ zu kratzen. Und diese Kraft ist auch an einem Montagmorgen um 6:00h zu spüren…
Durch Brügge und Antwerpen flanieren…
Sonntagmorgen an einem deutschen Provinzbahnhof. Nur ich, mein Rucksack und ein Belgien-Ticket der deutschen Bahn, dass das kostengünstige Reisen nach Belgien erst möglich macht. So ein wenig kommt Interrail-Stimmung auf, weil die Stimmung passt und ich schon lange nicht mehr im Ausland Bahn gefahren bin. Hinzu kommt eine leichte Nervosität, ob denn auch alles klappt und die Vorfreude auf ein wenig Abstand zum Hier und Jetzt. Reiseziele sind Brügge und Antwerpen, zwei der drei flandrischen Städte, die ich schon länger auf dem Plan habe, aber Gent werde ich nicht schaffen. Dafür sind zweieinhalb Tage einfach zu kurz.
Zunächst geht es über Köln und Brüssel nach Brügge. Erwähnenswert an der Bahnfahrt ist eigentlich nur der Aufenthalt in Köln, weil ich als seit Jahren nach Süddeutschland ausgewanderter Arbeitsmigrant die Umsteigezeit für diese wunderbare Mettwurst von Meister Bock nutze, die ich früher häufiger genießen konnte. Dabei kommt mir in den Sinn, dass ich schon ewig nicht mehr durch Köln gebummelt bin. Wahrscheinlich auch ein Fehler. Aber so ändern sich die Zeiten.
Am frühen Nachmittag treffe ich in Brügge ein, einem nicht kriegszerstörten, deshalb zum Weltkulturerbe gemachten 100.000 Leute-Städtchen, also eher übersichtlich. Ein riesiger Bahnhofsvorplatz von quasi-chinesischem Ausmaß ist schnell überquert und ich tauche in die Altstadt ein. Gut erhaltene Bausubstanz, pittoreskes Stadtbild, durchzogen von Kanälen und hie und da ein Baum. Ich checke schnell im Hotel ein, dass in einem ehemaligen Krankenhaus eingerichtet wurde und beginne meine Stadterkundung.
Und schon nach einigen Schritten fühle ich mich wohl und bekomme diesen provozierend langsamen Gang (denke ich zumindest) des Flaneurs, dieses leider wohl vom Aussterben bedrohten Typus des Tagediebs, der sich durch Stadt und Parks treiben lässt und den Blick für Details nicht verliert. Da sind die vielen kleinen Lädchen mit belgischen Spezialitäten. Da sind das Rathaus, die Kirchen, der Belfort am Marktplatz und vieles mehr. Aber mir geht’s auch nicht um das Sehenswürdigkeiten abhaken, sondern ums Eintauchen. Äh, und wo ginge das besser als bei einem lecker Bierchen auf dem Marktplatz? Nirgends! Also hock ich da, lass Einheimische wie Touristen an mir vorüber ziehen und genieße den Tag, aber langsam stellt sich Hunger ein.
Beim Flanieren ist mir schon ein Restaurant ins Auge gefallen, das unweit des Marktes als regionale Spezialität ein über Nacht in Trappisten-Bier eingelegtes Kaninchen anbietet. Das muss es dann irgendwie auch unbedingt sein, was sich als gute Wahl erweist, und so sinke ich einige Stunden später (Die Flandern lassen sich eben schon fast so viel Zeit für das Essen wie die Franzosen) weinselig und satt ins Bett.
Am nächsten Morgen checke ich früh im Hotel aus und verstaue mein Gepäck am Bahnhof im Schließfach, was mich allerdings ein wenig ins Grübeln kommen lässt. Schließfächer mit Schloss und Schlüssel haben sich doch super bewährt und sind auch wenig störanfällig, oder? Die belgische Bahn allerdings setzt auf Elektronik und das Einscannen eines Barcodes, was mich immer ein wenig nervös macht… Wo das jetzt welche Vorteile bringt, erschließt sich mir nicht, aber zum wirklich Grübeln ist der Tag auch zu jung. Ich tauche also wieder ein, in das sich belebende Brügge und da heute Montag ist, ist es auch nicht so touristisch geprägt, sondern von Männern und Frauen, die ihrer Arbeit entgegeneilen. Ich genieße es genau das nicht tun zu müssen und schlendere durch die Straßen, trinke einen Kaffee im Stehen und nehme auch die Außenbezirke mal in Augenschein. Siehe da: Windmühlen… An einem Kanal. Wie nett…
Brügge ist tatsächlich ein sehr ansehnliches Städtchen, das für ein kurzes Wochenende genug zu bieten hat. Gegen Mittag stellt sich Hunger ein und es geht in den Kardinaalshof, weil man sich ja sonst nichts gönnt. Und es wird tatsächlich ein Erlebnis, weil es mein erster zaghafter Ausflug in die Molekularküche wird. Aber da die Chemie sehr dezent eingesetzt wird, werde ich trotzdem satt. Geschmacklich ist die Verdichtung der Aromen natürlich ein Erlebnis, das mich durch den Nachmittag trägt.
Gegen 16:00h breche ich Richtung Antwerpen auf und auch die Elektronik des Schließfaches tut ihren Dienst, so dass die Fahrt mit dem Zug durch Flanderns Felder und Wiesen zum Genuß wird. Die Ankunft in Antwerpen ist kolossal. Ich habe noch nirgends einen solch prachtvollen Bahnhof gesehen. Fantastisch. Ich denke, es war mein alter Geschichtslehrer, der Bahnhöfe, als Kathedralen der Industriegeschichte bezeichnet hat. Wenn das für irgendeinen Bahnhof gilt, dann für den in Antwerpen. Wirklich großartig. Nach angemessenem Staunen verlasse ich den Bahnhof Richtung Innenstadt und gehe mitten durch das weltbekannte Diamantenviertel in dem 80% der Weltdiamanten- produktion umgeschlagen wird. Mir schwirrt natürlich alles durch die Hirse, was es an Halbwissen zu dem Thema gibt: Blutdiamanten; Diktatoren, die sich übers Finanzgeschäft finanzieren; Superreiche, die in Diamanten anlegen etc…. und all die scheine ich in ebendiesem Stadtviertel zu sehen. Eine eigentümlich, interessante Stimmung herrscht dort.
Nach dem Einchecken im Hotel, mache ich mich auf den Weg durch die Stadt, der eigentlich kein Weg ist, sondern ein Stromern mit Stadtplan. Deutlich urbaner als Brügge, weniger pittoresk, wenn auch schön und geschäftiger kommt sie rüber, die Stadt an der Schelde. Und Spaß macht sie auch. Diese Mischung aus jahrhundertealter Hafenstadt, jahrzehntealter Kulturhauptstadt und einer jungen Modeszene ist allenthalben zu spüren. Es gibt viele Straßencafés und Eckkneipen, auf den Plätzen sitzen die Menschen und es gibt jede Menge zu gucken.
Da es schnell Abend wird, sitze ich im Schatten des großen Rathauses und genieße eine Waterzooi, das flandrische Nationalgericht, dass es wie wohl alle Nationalgerichte dieser Welt in unzähligen Varianten gibt. Das Nachtleben der Stadt erschließt sich ob einer urplötzlich eintretenden Bettschwere nicht mehr so ganz, aber es bleiben Blitzlichter von einem regen Treiben auf den Straßen. Und das nicht nur zu Fuß, sondern auch und reichlich mit dem Fahrrad, wobei sowohl der eigenen Drahtesel, als auch Leihfahrräder zum Einsatz kommen, die an fast jeder Ecke zu leihen und zurückzugeben sind. Das Angebot scheint, eben weil es flächendeckend und bequem ist, gut angenommen zu werden. Da könnte sich so manche deutsche Metropole mal ein Beispiel nehmen.
Der Dienstag beginnt spät und nach einem reichhaltigen Frühstück – adäquat zur geografischen Lage Flanderns – mit allem was der Franzose zum petit dejeuner braucht (Bagette, Croissant und Konfitüre) und was der Mitteleuropäer schätzt (Schwarzbrot, Schinken, Käse, Ei) – geht es Richtung altem Hafen, wo ein spektakulärer Museumsneubau entstanden ist und drumrum gerade ein neuer Stadtteil entsteht.
Der Weg führt einmal durch die Innenstadt, die in den Nebenstraßen eine bemerkenswerte Zahl gut geführter Einzelhandelsgeschäfte aufzuweisen hat. Das unvermeidliche Rotlichviertel ist schnell durchschritten, da es doch recht monozentriert aufgestellt ist und ich nicht interessiert bin. Anders dagegen die Kulisse, die sich an Bonaparte- und Willemdok bietet: die alten Hafenbecken, neue und alte Architektur und mittendrin ein imposantes Museum aan de Strom. Vielfalt pur. Das ist zwar keine wirklich gute, aber eine vielleicht hinreichende Begründung dafür, sich den Museumsbesuch geschenkt zu haben. Es gibt so viel im Echten zu sehen. Und an einem herrlichen Morgen die Schelde Richtung Innenstadt zu schlendern, hat schon was.
Und irgendwas zieht mich wieder ins Diamantenviertel. Richtig. Ein Restaurant. Das Lamalo bietet neben aschkenasischer Küche, Gerichte aus der marokkanischen Heimat der Inhaber. Genau das richtige in einer Hafenstadt, die 160 Nationen eine Heimat bietet. Nach dem exotischen Geschmackserlebnis sollte es so weitergehen und deshalb war der Bahnhofsvorplatz schnell gequert und schwupps: Nach gefühlten zwanzig Jahren betrete ich mal wieder einen Zoo. Der Antwerpener Zoo ist der älteste des Landes und weit über Belgiens Grenzen hinaus berühmt. Es gibt allerlei Tiere zu sehen, die in ihrem Verhalten den Menschen nur zu ähnlich scheinen wie Paviane oder Erdmännchen. Tiere, die im deutschen Liedgut eine wichtige Rolle eingenommen haben, sind ebenfalls zu sehen: Okapis und Schabrackentapire.
Nach fast drei Stunden war mir aber wieder mehr nach Menschen und ich mach mich wieder auf dem Weg durch die Stadt. Schlußendlich lande ich im Stadtteil um das Museum der schönen Künste, wo ich einen schönen Abend in einer netten Weinbar, einem anständigen Restaurant, dem „Zoro“ am Leopoldplaats 5 und einer prima Bierkneipe, klugerweise schräg gegenüber meines Hotels, verbrachte. Interessante Gespräche mit Belgiern, die sehr offen waren und mit denen die Verständigung auf Deutsch, Englisch, und brockenweise Spanisch und Französisch ganz anständig klappte, ließen mich ein wenig hinter die Kulissen gucken und rundeten den Kurztrip in Flanderns Städte ab.
Und ich glaube auch, dass ich nicht zum letzten Mal in Flandern gewesen bin!
Nachtrag: Nach so einem Abend um 4:00h aufzustehen, um gegen 5:00h in einem Zug zu sitzen, damit man um 9:30h an einer Maikundgebung teilnehmen kann, ist nicht lustig…
Abschied vom Motorradwandern
Heute fahre ich wohl zum letzten Mal mit meiner XT600. Es ist eine Abschiedstour, ein letztes Mal von A nach B, eine letzte Motorradwanderung. Ich fahre die XT nach Siegen und lagere sie bei meiner Schwester ein. Verkaufen will ich sie nicht, dass hätte der Bock nicht verdient. Und nach fast
20 Jahren habe ich nun mal ein emotionales Verhältnis zu dem Haufen Blech.
Er hat mich durch jede Ecke Frankreichs und Spaniens geführt, war die einzige Begleitung auf vier- fünfwöchigen Touren, die ich alleine gefahren bin. Er war auch dabei als ich zwischen Almeria und Murcia verunfallte, was meinem Leben eine Wende gegeben und dem Motorrad eine Reparatur verschafft hat.
Ein Motorrad ist aber auch immer mehr als ein Verkehrsmittel oder Reisemobil. Es ist eine archaische Form der Fortbewegung; du bist Wind und Wetter ausgesetzt, die Technik liegt – zumindest bei den Teilen, die ich für Motorräder halte – recht offen und es gibt keine Knautschzonen.
Das hat mich seitdem ich sechzehn bin immer fasziniert und angezogen, und so bin ich von einer Zündapp KS50 watercooled über eine Kawasaki Z400 schließlich bei der XT gelandet, weil eine Enduro natürlich der Vorstellung von grenzenloser Mobilität am nächsten kommt.
Das hat für mich auch heute noch Geltung und ich ziehe meinen Hut vor Kradvagabunden und Motorradreisenden, aber ich habe in den letzten Jahren immer mehr gemerkt, dass in meinem Leben das Motorrad aufhört, Verkehrsmittel zu sein. Das hat mit neuen Interessen, mit dem Job, mit der Entfernung zur Arbeit und vielem mehr zu tun. Das Ein und Alles wird zum Freizeitmobil, das bewegt werden will. Und das will ich nicht. Ich will es aus Gründen politischer Glaubwürdigkeit nicht, weil man nicht auf der einen Seite postfossile Mobilitäten predigen und auf der anderen Seite zum Spaß mal 5Liter auf 100km verblasen kann. Was aber viel stärker wiegt, ist das Gefühl so Motorrad zu fahren, wie diese Reihe alter Männer, die sich auf dem Motorrad ein Stück Jugend holen, wiederholen oder bewahren. Mir gehen diese Horden offensichtlich gutverdienender, älterer Herren, die da rumcruisen, Sonntagmorgens ihre Tour machen und schon von Weitem grüßen, auf den Wecker. Und ich will mich mit denen nicht gemein machen. Basta.
Deshalb geht heute die Ära des Motorradwanderns für mich zu Ende.
Schweren Herzens, aber reiner Seele, weil es nun mal bei manchen Themen
nichts Richtiges im Falschen gibt!
5. Tag Schnee in Peking
Der Schnee hat sich auch über Nacht nicht in Luft aufgelöst und es ist reichlich kalt. Als Alternative zur großen Mauer besichtigen wir den Sommerpalast des Kaisers, also dessen Sommerresidenz. Malerisch gelegen an einem See. Und durch den Schnee hat das Alles grad noch mal was Pittoreskes. ist wirklich schön und ein empfehlenswertes Ausflugsziel, was wohl auch andere Menschen so sehen, weil es sagenhaft voll war.
Und weiter ging es in die Verbotene Stadt, dem eigentlichen Regierungsviertel. Auf dem Weg dorthin überquerten wir den Tiananmen-Platz, dem Ort wo Mao die Volksrepublik ausgerufen hat, der aber vielmehr traurige Berühmtheit durch die gewaltsame Niederschlagung der Demokratiebewegung am 03. und 04. Juni 1989 erlangt hat. Interessanterweise ist auf dem Platz selber niemand zu Tode gekommen, aber im Großraum Peking sind in diesen Tagen 2600 Menschen ermordet und 7000 verletzt worden. Ein mulmiges Gefühl stellt sich ein, dass durch die sozialistische Giganto-Architektur und den eisigen Wind noch verstärkt wird.
Die verbotene Stadt ist auch ohne Sozialismus gigantisch. Riesige Paläste mit großzügig angelegten Plätzen und einer insgesamt 720.000qm großen Fläche sprechen für sich. Und natürlich ist das Arrangement nicht nur funktional, sondern an jeder Kante mit Symbolik aufgeladen. Das ist alles sehr beeindruckend, aber da ich in chinesischer Geschichte nicht so bewandert bin und die bislang auch nicht sowas wie Konsequenzen für mich gehabt hätte, bleibt der letzte Kick aus.
Aber auch das geht vorbei und es wird wieder offiziell. Die Pekinger Bezirksgewerkschaft hat zu einem Empfang geladen und präsentiert die wohl schmackhafteste Sehenswürdigkeit der Stadt: Pekingente! Nach einer ganzen Reihe von Vor-, Haupt- oder Nebenspeisen wird der Vogel in den Saal geschoben und von einem Koch fachmännisch in millimeterdünne Scheiben zerlegt. Diese Scheiben werden dann zusammen mit Gemüsestreifen und einem leckeren Sößchen in Filoteig eingewickelt. Sehr lecker, ach was zum Niederknien lecker.
Neben dem kulinarischen Aspekt wird natürlich auch Politik gemacht und interessant ist hierbei, dass die KollegInnen aus Chengdu einen deutlich fortschrittlicheren Anspruch haben, als der Pekinger Hauptstadtfunktionär, der zwar weiß, was er zu sagen hat, aber ansonsten doch sehr traditionell argumentiert. Er scheint auch in Sachen Tischsitten eher old school aufgestellt zu sein und so wird reichlich angestoßen und zugeprostet. Dabei erwischt es hauptsächlich den Vertreter der Botschaft, der wohl in den Augen des Funktionärs am meisten für ihn tun kann.
Mit dem Botschaftskollegen verdünnisieren wir uns nach dem Empfang noch zu einem Austausch, was sehr interessant war. Der Kollege konnte das Spannungsfeld in dem die chinesische Spitze agieren muss gut beschreiben. Auf der einen Seite sehen sie als Marxisten die Herausforderungen der Zeit, von Peak Oil und Klimawandel über Umweltschutz bis hin zum demografischen Wandel und der sozialen Spaltung des Landes (Ost-Westgefälle) und der Gesellschaft (der Abstand zwischen Oben und Unten). Auf der anderen Seite sehen sie auch den Sprengstoff, der in der Dynamik liegt, die sie losgetreten haben. Es fällt ja in den postmodernen, wertegewandelten Gesellschaften des Westens schon nicht leicht, die Menschen zum Umdenken zu bewegen; wie würden wohl die Menschen in dieser Wirtschaftswunder-Gesellschaft reagieren, wenn ihnen gerade jetzt, wo sie es sich endlich leisten können, das Auto abgenommen wird….
Demokratiepolitisch scheint zumindest die Spitze über Mitbestimmungsmodelle a la Deutschland nachzudenken, um eben die Unzufriedenheiten kanalisieren zu können. Ob über eine solche Mitbestimmung auch inhaltlich was in Richtung Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit bewegt werden kann, wird sich zeigen.
Das Gespräch war leider viel zu schnell vorbei, weil wir zum Flughafen mussten, von dem aus wir dann um 2.00h den Heimflug antraten und um 5.30h wieder in Deutschland landeten. Manchmal ist es wirklich von Vorteil die Sonne im Rücken zu haben…
Und damit ging eine kurze, aber sehr intensive; eine informative, aber auch verunsichernde Stippvisite ins Reich der Mitte zu Ende….