7. Etappe: Murrhardt – Tübingen

In der Nacht war ein Plan gereift und da der Herbergsvater mitspielte und die Deutsche Bahn auch, wurde aus dem hedonistischen Vorhaben Realität. Worum geht es? Die Strecke von Murrhardt nach Winnenden führt weiterhin durch mittelgebirgige Wälder, was nur bedingt tauglich ist, um den angekündigten sonnigen Tag zu genießen. Deshalb habe ich beschlossen nach Winnenden zu fahren und von dort aus nach Esslingen zu laufen, weil die Strecke durchs Remstal führt, was den Kennern würrtemberger Weinen wohl was sagt. Mir nicht. Ich kenn ja würrtemberger Weine eher aus seligen Supermarktzeiten. Das ist die letzten Tage aber besser geworden, weil ich mich hier nun durchprobieren kann. Also: Remstal, ich komme!

Vorher gilt es in der Jugendherberge auszuchecken und das geht erst um 8:00h, der Zug fährt aber um 8:36h, was bei meinen Bürokratievorbehalten und der Masse komischer Elternfreundeskreise und weniger komischen Jugendgruppen dazu geführt hat, daß ich fünf vor acht vor einer geschlossenen Rezeption gestanden bin. Als einziger. Die war ja auch zu. Pünktlich um acht sprang die angebrachte Ampel auf grün und ich konnte nun klingeln, um anzudeuten, daß ich was will. (Echt. Ich schwör, daß es diese wahrscheinlich selbstgebaute Anlage wirklich gibt.) Und mit dem Klingeln ging die Klappe auch auf und ich war in Nullkommanix ehemaliger Gast dieser Jugendherberge, durfte aber – ob der gewonnenen Zeit beim Auschecken war das drin – zum Frühstück.

Frühstücken in Jugendherbergen hat einen ganz besonderen Reiz, weil es einen tiefen Einblick in die Essenskulturen dieser Welt zulässt. Wer nimmt was? Wie wichtig ist der Kaffee? Wer organisiert die Gruppe? Und: Wer wischt den Tisch ab, was es im normalen Gasthof ja nicht gibt. Insbesondere die Frage nach dem wer nimmt was, find ich immer lustig, wenn es eben nicht das elterlich reglementierte Sontagsmorgenangebot gibt, sondern eben auch sackweise Wurst und Schinken, sowie Kakao und alles andere Schädliche außer Alk und Kippen. Es war recht unterhaltsam wie die Kinder argumentierten, aber leider mußte ich los, hab meinen Zug auch erwischt und bin in Begleitung von Sonntagsausflüglern nach Stuttgart dann in Winnenden gelandet.

Den ersten Schritt auf den Bahnhofsvorplatz gesetzt und schon den ersten Gedanken an diesen Amoklauf im Kopf. Das ist ja schon gefühlte 100 Jahre her, aber was soll einem sonst zu Winnenden einfallen, außer Kärcher vielleicht, die hier ihren Stammsitz haben. Dieses Gefühl hat mich auch nicht verlassen, als ich Richtung Marktplatz und einer Andeutung von Altstadt ging und sich verstärkte, als ich darauf hin an einer Riesenpsychatrie vorbeigeleitet wurde.
Der Weg führte aber gleichzeitig aus der Stadt hinaus und die düsteren Gedanken verflüchtigten sich beim Gehen durch Streuobstwiesen und dem Blick auf recht steil angelegte Weinberge. Richtige Entscheidung, diesen Weg zu wählen, hab ich bei mir gedacht, als ich auf einer Höhe stehend, dieses Tal fleißiger Häuslebauer und Checker bis hin zum Stuttgarter Fernsehturm überblicken konnte, im Hintergrund aber die Frühschoppenkneipe vom Schützenverein lärmte. Ich sage es ungern, aber vielleicht muß tiefer in die schwäbische Seele geschaut werden. Und vielleicht steckt hinter dieser ewigen Organisiererei – selbst im Biergarten werden Tische umgerückt und Decken besorgt – nichts anderes als eine protestantisch verklemmte Lebensfreude, denen weder die Kinder der Bischöfe von Bamberg und Würzburg, noch die säkularisierten Berliner viel Verständnis entgegenbringen können. Aber das müssen wir lernen und da hilft nur begreifen.

Folglich bin ich weiter an sich selbstoptimierenden Schwaben und den dazugehörigen Zugereisten Joggern, Walkern und Bikern – immerhin war Sonntag, im G’schäft nix los und deshalb Zeit zum Körper stählen – vorbeigewandert, bzw. hab mich von ihnen überholen lassen müssen und dieses echt schöne Tal mit Ausblick auf die schwäbische Wirtschaftsmacht genossen. Die Gemeinden des Tals sind größtenteils unter einer Verwaltungsgemeinschaft mit dem klingenden Namen „Weinstadt“ zusammengefasst, was in mir einen gewissen Drang nach Einkehr hervorrief, die in Kleinheppach ihren Erfüllungsort fand. Was ich nicht wissen konnte, war das just zu diesem Sonntag in dieser Gemeinde der weiße Sonntag, also die Erstkommunion, gefeiert wurde. Da wo ich herkomme, ist der weiße Sonntag immer der erste Sonntag nach Ostern (!) und alles andere fühlt sich an, als ob es dem Priestermangel geschuldet wäre. Egal. Nach dem Jugendherbergsfrühstück ergab sich dadurch eine weitere Gelegenheit zu kultursoziologischen Studien. Und wie sooft bei solchen Studien ergaben sich mehr Fragen als Antworten. Warum müssen Mädchen jetzt cremefarbene, lange Kleider und Handschuhe tragen? Warum trägt die dazugehörige Mutter einen ascot-großen Hut und warum wirkt der Typ daneben wie bestellt und nicht abgeholt. Warum sind in einer Dorfkneipe fünf Kommunionfeiern unterzubringen, weil alle nur noch mit max. fünf bzw. sieben Leuten feiern. Warum sitzen vier Leute, die sich auf einer Kommunion getroffen haben, in einem Gasthof abseits der eigentlichen Feier, um den Tod von Mutter und Frau, gemeinsam mit deren besten Freundinnen Revue passieren zu lassen? Zu meiner Zeit waren das Feiern mit dreißig Leuten, die das Kommunionkind feierten, die Toten der letzten Zeit betrauerten und freudige Ereignisse schonmal begossen. Das Leben, der Tod und das alles weiter geht, war eins und die Rahmen für Selbstinszenierung war eng gesteckt. Aber wo diese Selbstinszenierung keine soziale Kontrolle mehr kennt, läuft eben auch ein wagenradgroßer Hut durch eine kleinheppacher Dorfpinte und muß sich von diesem leicht müffelnden Fernwanderer schief anlächeln lassen, weil der Maßstab dafür, wer sich womit an welchem Ort blamiert, abhanden gekommen ist. Was mir diese Crogs-Frage nochmal leichter macht, wenn ich dahinter auch ein bedenkenswertes Thema sehe.

Ich bin dann über die Ebene weitergezogen gen Neckartal und abschließend ging es steil abwärts Richtung Esslingen. Und mit jedem Schritt war klar, daß das nicht meine Stadt ist. Sehr schnieke, sehr gelackt und eben so klemmig. Das da die Freundin einer Freundin vor Jahren in besseren Kreisen beinahe mal an dieser Spießigkeit erstickt ist, hat natürlich alles nur verstärkt. Also dann: Ticket gezogen, nach Tübingen gefahren, in der Jugendherberge eingecheckt und ab ins Städtchen. Schöne Stadt, viel Altstadt, n Fluß (ja, es ist der Neckar) und halt ein durch und durch akademisch-studentisches Gewese. Nach Jahren jenseits der Idee eines flockigen Sommersemesters, kam mir der Gedanke einen Montag in Tübingen zu verbringen, geradezu vor, wie ein Jungbrunnen.

Der erste Off-Day also in Tübingen. Schön lang liegen geblieben, gefrühstückt, den blog betreut und am späten Vormittag hinein ins Getümmel. Das Semester scheint schon begonnen zu haben und es hat sich seit zwanzig Jahren nichts verändert. Orientierungslose Erstsemester. Umherhechtendes Lehrpersonal, das mit einem neuen Raum für eine alte Veranstaltung überfordert scheint. Altstudis, was es ja nach Bologna eigentlich nicht mehr geben dürfte, aber dieser Schlag reichlich souverän daherkommender höherer Semester, meistens männlich, die bereitwillig jedem Erstsemester, vorzugsweise weiblich, weiterhelfen und einige andere Prototypen, die es anscheinend in jedem Jahrgang gibt. Soweit so gut und nicht anders als an meiner alma mater in Siegen. Nun ist Tübingen, aber Tübingen; altehrwürdig und seit jeher eher eher liberal, wenn nicht sogar fortschrittlich. Was in Zeiten wie diesen, eine durch und durch grün geprägte Stadt verspricht. Bioläden, italienische Espressobars und fair gehandelte Kleidung, sowie mehr als einen Weltladen (die Betreiber haben sich wahrscheinlich in den 80ern bei irgendeiner Imperialismus-Debatte heillos zerstritten) und alles was sich so anbietet von Feinkost über Outdoorklamotten bis Döner-Läden die vorzugsweise Falafel verkaufen und gefragt werden, ob die Sauce denn vegan sei. Das ist unbestritten nett und auch echt einen Ausflug wert, aber ich brauchte dann gegen mittag mal ne Pause und haben dem Stadtfriedhof einen Besuch abgestatten. Dort sind Hölderlin und Walter Jens neben einigen anderen untergebracht und ich habe bei Hölderlin ein wenig, bei Walter Jens ein wenig mehr ausgeharrt. Prof. Jens hat wie wenig andere die humboldtsche Universität mit ihrem Anspruch an das allseitig Interessierte einerseits und andererseits mit der hohen moralischen Verantwortung des Intellektuellen, des staatlich alimentierten insbesondere, vorgelebt, auch wenn er hie und da mal Scheiße gebaut hat.
Aber wer macht das nicht?

Nach diesem Ausflug war ich wieder bereit für den Gang ins Lebensweltliche und nach einem leider alleine eingenommenen Bierchen in einem schattig gelegenen Cafe, habe ich versucht, diese Stadt mal anders zu lesen. Ich habe nach Aufklebern und Graffitis geguckt und nach einiger Zeit gemerkt, daß Fußball in dieser Stadt nicht stattfindet und niemand der Meinung ist, daß alle Chemnitzer beautiful sind, was sich ja bundesweit in dieser kurzen Formel ACAB darstellt. In Tübingen? Nüschte! Natürlich gab es hie und da einen Aufkleber, der über das hier und jetzt hinausweist, aber in Gänze stellt sich diese Stadt als der befriedete Raum eines ökoliberalen Bildungsbürgertums dar, was ich in den anderthalb Tagen durchaus genießen konnte. Aber in Gänze wird das nicht weiterhelfen. Gesellschaftlicher Fortschritt entsteht aus Konflikten und wenn keine da sind, muß man sie suchen. Das hat bereits ein großer Vordenker unserer Zeit, William Wallace, so formuliert, als er auf die Frage, was er da draußen wolle, antwortete, daß er sich ein wenig Ärger suche.

Ich war allerdings nicht auf Krawall gebürstet und hab mich nach einem recht anständigen Kneipenessen dann auf den letzten Abend im Zwei-Bettzimmer vorbereitet, weil mein Zimmerkollege in der Herberge schon ein wenig strange war. Ein mehr als wortkarger Langschläfer, der so überhaupt kein Interesse daran zeigte, dieses kurzfristige Miteinander zu gestalten. Und weil ich ja früh raus mußte, war ich vor ihm da. Dachte ich. Der lag schon, hat aber gelesen. Also hab ich ihn angesprochen und ihm erklärt, daß ich morgen früh zusammenpacken, duschen und abreisen muß, kurz Lärm machen werde. Die stoische Antwort: Passt schon. Ich leg mich also hin und träum von Erstsemesterparties und Aufständen vergangener Tage. Als ich wach werde, ist der Vogel schon ausgeflogen. Ich treff ihn dann aufm Weg zu Dusche, lesend in einer Nische. Als ich dann gehe, sage ich ihm ein Auf Wiedersehen, von dem ich mir wünsche, daß es nie eintritt. Leute gibt es, die gibt es gar nicht.

Ein Gedanke zu „7. Etappe: Murrhardt – Tübingen

  1. Sehr schön zu lesen, fast so als wäre man selbst dort gewesen. Was vielleicht ausbaufähig wäre, sind Deine (schrägen) Kontakte, die Du so machst auf Deinem Weg. Könnte aber auch zu persönlich werden…
    Dann versprichst Du uns Lesenden quasi eine Weinwanderung durchs Remstal, aber kein Wort über Geschmack und Wirkung desselbigen. Absicht?
    Aber hey, es ist echt ne geile Sache mit Deinem Blog. Man kommt raus aus seinem Trott und fühlt sich Dir dabei auch noch nah. Da kann ich nur sagen: Bingo und Danke vorab für die nächsten Berichte:-)

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