Nach einer erstaunlich ruhigen Nacht, ohne Pochen im Finger oder sonstige Hinweise auf Komplikationen bin ich dann zeitig los, um mich wieder in der Ambulanz vorzustellen. Da war ich auch und habe da den Unterschied zwischen „Mañana. Mañana“ und „mañana mañana“ kennengelernt. Während das erstere Irgendwann mal heißt, soll dem Sprachunkundigen oder auch allen Anderen das gedoppelte Wort zweimalmorgen, also Übermorgen bedeuten. Ich werde also freundlich angehört, aber abgewiesen und mache mich auf den Weg.
Das Gesundheitszentrum liegt zunächst nicht auf dem Weg, aber als ich auf den Weg einbiege, wird er wahr. Der Alptraum dieser vielen, aneinandergereihten PilgerInnenhorden, die sich aus welchen Gründen auch immer auf den Weg machen. Jetzt isses soweit. Gegen das, was hier dem Weg zugespült wird, ist Le Puy, Conques, selbst Saint Jean ein Kinderspiel gewesen. Und ich mittendrin, gehandicaped, weil ich ja den verbundenen Mittelfinger spazierentrage. Das macht keine gute Laune und ich muß das Mantra von meinem Weg und meinem Tempo ein paar Kilometer vor mich herbeten, bis es wieder passt.
Die haben jedes Recht hier zu sein und auch so laut, wie sie wollen. Die spielen in einer anderen Liga. Ich bin seit fast vier Monaten unterwegs und die sind heute Morgen losgegangen. Natürlich ist man da aufgeregt und wenn die Clique dabei ist, wird eben gequatscht. Alles ok, wer aber bei alle dem aufhört im Kopf zu haben, daß er oder sie nicht alleine auf der Welt ist, sollte diesen Weg sehr langsam auf sich wirken lassen. Ich freue mich wie Bolle auf den 100km Stein, also den Hinweis, daß es nur noch 100km zu Laufen sind, weil daß für jemanden mit einem nicht-linearen Zahlenverständnis n echt schönes Ding ist, wenn es nicht mehr drei, sondern nur noch zwei Zahlen vor dem Komma sind. Und dann isses da und ein possendes, selfie-optimierendes Twentysomething-Gedöns ertrage ich ja. Als aber eine Gruppe jungebliebener 40jähriger Französinnen, an mir und ein paar MountainbikerInnen die auch weiter wollen, die SelfieNummer schieben wollen, rauschts. Ich werde laut und verweise die Damen auf den Platz, schieße mein Foto, zusammen mit der MountainbikerInnengruppe, zeitgleich und wir können weiter. Was die Mädels danach an Aufwand treiben, ist mir Latte, aber ich denke nach, wieviel Aufwand es machen würde, die Zeit am Stein zu verkaufen. Also 100 Meter vorher ein Schild aufzustellen und anzukündigen, daß es Stau gäbe, aber 5 Minuten alleine mit den Stein auch nur fünf Euro kosten würden und dann können die SelfiePosing machen wie sie wollen, aber ich verdiene mein Taschengeld. Ich überlege noch das business modell an einen notleidenden spanischen Rentner zu verschenken und dann ist der Gedanke auch schon wieder weg.
Kurz nach einer völlig überfüllten Raste, kommt ein souverän geführtes Haus für Leute, wie mich. Familienbetrieb, wenig zu Essen, wenn dann Menü, kein Englisch, aber ein frischgezapftes Estrella Galicia für die letzten Kilometer rücken sie raus. Lecker und ich habe die Ruhe, während die Corona an mir vorbeilatscht, diesen Moment zu genießen. Nur noch 100km. Wenn mir am 4. April mal jemand gesagt hätte, daß ich 100km zu Fuß und vier Tage für recht überschaubare Einheiten im Sinne von Geschwindigkeit und Dauer halte, hätte ich wahrscheinlich ungläubig geguckt. Ist aber so. Es hat sich was verändert. Ob das gut oder durchhaltbar ist, wenn ich wieder Auto fahre, ist dabei zweitrangig. Das es in geänderten gesellschaftlichen Bedingungen zu veränderten Interpretationen von Nah und Fern, sowie von Dauer kommt, kommen kann, ist doch schonmal positiv. Beim Bezahlen treffe ich noch ein sehr nettes dänisches Pärchen. Wir unterhalten uns kurz, aber klug und weiter gehts.
Dann checke ich in Portomarin ein und gehe erstmal zum Centro de Saude wie das hier in Galizien heißt und lasse mich neu verbinden. Ikke und ein Doktor plus der Typ am Wareneingang, die beide gar kein Englisch sprechen. Ein Traum. Nun kann ich ja ein paar Brocken, was aber macht ein Refugee, der nichtmal die rausbringt und erklären muß, was ihm gerade fehlt und, so wie ich -hüstel- auch keine Krankenkarte dabei hat, also Cash bezahlen will. An dieser Stelle meinen Respekt für alle, die sich auf diese lange Reise einlassen und ein großes Danke ans Centro, weil ich einen neuen coolen Verband bekommen habe. Dann habe ich Hunger und ess was. Beim Blick darauf, wo ich den jetzt hin muß, meine Unterkunft, merke ich, daß die zwar ein gut besprochenes Resto hat, aber außerhalb liegt. Also geht es nochmal los, als ein Auto neben mir hält und mich fragt, ob ich da hin will. Lustigerweise hat er das Logo der Unterkunft auf der Fahrertür und ich steige ein. Toll, n Shuttelservice, der mich morgen auch zurück auf den Weg bringt.
Zimmer beziehen. Waschen. Duschen. Duckeln. Und dann mal runter in den Landgasthof. An der Theke ein ein irisches Lehrerpärchen, mit dem es vor und während dem Essen um eines der wichtigen Themen der Welt geht. Wie kriegen wir welche Problemlösungskompetenz mit welchen Ausgangswissenbeständen in welche Köpfe und wie kriegen wir es hin, daß als allererstes alle begreifen, daß alle Kinder in eine Schulklasse gehören und das dreigliedrige Schulsystem sowas von oldschool ist. Ein ganz tolles Tischgespräch, das mir viel mitgegeben hat. In Irland haben die wohl nie Inklusion beschlossen, weil sie das Prinzip der Einheitsklasse nie aufgegeben und somit quasi natürlich inklusiv sind, was wieder auch ein Fingerzeig drauf sein kann, daß gute Konzepte auch aus der Not geboren sein können. Hm, so kann es also auch gehen. Ich hätte es halt lieber ohne Not. Aber ich geh jetzt aufs Zimmer, ess Pistazien für die Blutbildung und schlafe…