Great.Transformation.Jena Tagungsbericht Tag 4

Lampenfieber. Wie immer. Heute Nachmittag muss ich in die Bütt. Ich werde das in diesem Leben wohl nicht mehr los. Aber egal, Ist ja erst heute Nachmittag. Zum Aufwärmen geht es in ein Panel, das sich mit kollektiven Arbeitszeitverkürzungen beschäftigen will. Nach dem riesigen Erfolg der letzten IG Metall-Tarifrunde und den vielen Menschen, die lieber die Chance auf mehr Freizeit genutzt haben, als noch mehr Geld zu verdienen, steht es geradezu auf der Tagesordnung über weiteren Schritt zur kollektiven Verkürzung der Wochenarbeitszeit nachzudenken. Aber die IG Metall ist erst ganz zum Schluss dran.

Vorher trägt Ursula Stöger (Augsburg) ihre Forschungen zum Thema vor, die sich im Kern auf eine 30h-Woche und einen erweiterten Arbeitsbegriff unter Einbeziehung der CARE-Arbeit beziehen. Hinzu kommt dann eine durchaus denkenswerte Verlängerung der Lebensarbeit, die der weiteren Inklusion Älterer dienen soll. Das funktioniert allerdings nur, wenn die Arbeit die Menschen nicht fix und fertig macht, was ein anderes Produktions- und Sozialmodell von Nöten machen würde.
Interessant ist der Gedanke die normative Verringerung der Wochenarbeitszeit als Ausgangspunkt für ebendiese systemischen Veränderungen herzunehmen. Die Augsburger Soziolog_innen begründen das auch historisch mit dem Hinweis auf die Arbeitszeitgesetzgebung als erste Intervention in die kapitalistischen Arbeitsbeziehungen. Ob allerdings eine verkürzte Wochenarbeitszeit tatsächlich auch eine Wachstumsbremse wäre, bleibt für mich eine offene Frage. Historisch gesehen kann ja die 35h-Woche auch als ungeheurer Produktivitätsmotor  und Leistungsverdichterin gesehen werden. Hört keiner gern, ist aber so.
Und unabhängig von der wohl stärker zu beleuchtenden wachstumshemmenden Funktion, aber mit Keynes gedacht, steht eine grundsätzliche Arbeitszeitverkürzung und eine andere Verteilung der Wohlstandsgewinne doch längst auf der Tagesordnung. Eigentlich.

Im Nachgang stellt der Altmeister der deutschen Zeitforschung, Ulrich Mückenberger, das Optionszeitenmodell vor, dass er und sein Team entwickelt haben und das den „atmenden Lebensläufen“ gerecht wird. Atmende Lebensläufe ist die Klammer für die Beobachtung, dass sich Lebensphasen immer kleinteiliger gestalten und während früher mit Kindheit – Schule/Ausbildung – Arbeit – Rente alles gesagt war, gibt es heute Weiterbildungsphasen, Eltern- und Pflegezeiten, sowie Sabbaticals oder ehrenamtliche Einsätze im Ausland etc.. Dem soll mit einem zentral geführten Zeitkonto gerechnet werden, von dem Arbeitnehmer_innen im Umfang von etwa 9 Jahren bei Bedarf Zeiten entnehmen können. Zentraler Punkt der Überlegungen ist bei dem Modell, die Care-Arbeit stärker in die Erwerbsarbeit zu integrieren und somit auch die Teilung dieser Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern zu verbessern. Das machen die Schweden auch ganz klug. Die Elternzeit verfällt schlicht, wenn sich die Elternteile die Zeit nich 50:50 teilen. Wahrscheinlich geht’s nur so. Das Optionszeitenmodell macht einen seriösen Eindruck hinsichtlich Konzeption und Zielsetzungen: An den Finanzierungsfragen wird noch gearbeitet.

Dann stellt Dr. Heidi Schroth die Überlegungen der IG Metall vor, die ja eigentlich bekannt sein dürften. Es geht aktuell darum, wie das Thema Arbeitszeiten tarifpolitisch weiterverfolgt wird und wie sich die zweite Runde von verkürzter Vollzeit und T-ZUG darstellt. Es geht auch darum, abzulesen wie hoch das Interesse an weiterer Arbeitszeitverkürzung denn überhaupt ist, weil sich nur daraus die sicherlich notwendige Arbeitskampffähigkeit ableiten lässt. Alles klar. Alles sehr operativ. Die Diskussion um kollektive Arbeitszeitverkürzung als Postwachstumshebel wird leider in der IG Metall eher nicht geführt, scheint mir.

Dann ist auch dieses Panel vorbei. Es war eine gute Einstimmung in die Nachmittagsveranstaltung, bei der ich nun auch nen Part habe. Aber vorher ist Mittagspause, mache mir den Rest Nudeln von gestern warm und versuche mein Lampenfieber in den Griff zu kriegen. Geht aber nicht und so bummele ich noch ein wenig durch dieses wirklich lauschige, aber durchaus quirlige Stadt. Dann stehe ich nur ein wenig zu früh vor den Rosensälen, wo die Sause steigen soll.

Das Panel steht unter der Überschrift „Zeitwohlstand in der Arbeitswelt von Morgen“ und soll aus verschiedenen Perspektiven den Frame Zeitwohlstand genauer fassen. Und das sowohl hinsichtlich seiner Ausgestaltung, als auch der Restriktionen.
Den Einstieg machen Christoph Bader und Hugo Hanbury aus Bern, die in einem spannenden Projekt versuchen die ökologischen Effekte individuell reduzierter Arbeitszeit fassbar zu machen, indem Sie mit Menschen, die reduzieren wollen oder schon reduziert haben Interviews zu ihren Konsumgewohnheiten führen. Dieser Konsum wird dann hinsichtlich seines ökologischen Fußabdrucks bewertbar gemacht und in einer dritten Phase werden die Ergebnisse mit den Teilnehmer_innen der Studie reflektiert. Das ist von daher spannend, weil ja nicht jede Arbeitszeitverkürzung auch einen ökologisch positiven Effekt hat. Es soll nämlich Leute geben, die in jeder freien Minute mit Ryanair oder wem auch immer durch die Gegend fliegen. Und wie ein gesellschaftliches Klima für eine ökologisch vertretbare Zeitgestaltung aussehen soll, ist doch die Gretchenfrage. Vielleicht gibt das Projekt ja weiterführende Auskünfte.

Im Anschluss sprach der Berliner Jochen Dallmer zum subjektiven Wohlbefinden und der Verwendung von Zeit. Und auch er arbeitete heraus, dass die Wertschätzung eines Mehr an Zeit viel mit subjektiven Dispositionen und Konsumvorstellungen zusammenhängt und nicht zwangsläufig nachhaltig sein muss. Aber das es empirische Belege darfür gibt, dass die Zufriedenheit derer größer ist, die mehr machen und tun als kaufen und konsumieren. Klingt komisch, ist aber so!

Im Nachgang dazu stellte Shih-cheng Lien vom DJI das Optionszeitenmodell, das morgens ja schon Ulrich Mückenberger (siehe oben) vorgestellt hatte. So klein ist die Welt der soziologischen Zeitforschung.

Und dann standen Gerrit von Jorck von der TU Berlin, Elena Tzara vom Premium-Kollektiv und ich in der Bütt und stellten entlang der Projektskizze „Zeit-Rebound, Zeitwohlstand und Nachhaltiger Konsum“ das methodische Vorgehen, die inhaltlichen Thesen und die konkreten Interessen der Projektpartner_innen (zu denen ich und dieser Automobilzulieferer für den ich arbeite gehören) vor. Worum geht es?
Ausgangspunkt ist die These, dass die Belohnung für lange Arbeitszeiten und/oder fordernde Aufgaben oft genug in sinnfreiem Konsum aufgelöst werden kann, der vom 70. Paar Schuhe (Ok. die Sinnlosigkeit eines 70. Paar Schuhe wird von dem einen oder der anderen bezweifelt. Ich glaube aber fest daran.) über den immer aller neuesten Weber-Grill bin hin zu Online-Käufen, die nie ausgepackt werden, reichen kann. Wer sich dem Zeitregime oder den Leistungsanforderungen entziehen kann, hat zumindest die Option aus dem Teufelskreis von Arbeiten – Belohnen – Konsumieren auszubrechen. Diese Option ist beim Premium-Kollektiv quasi Gründungsgedanke. Selbst gewählte Arbeitszeiten, Einheitslohn und seit 17 Jahren erfolgreich am Getränkemarkt. Geht doch. Und Elena erzählt das mit so großer Selbstverständlichkeit, das die Möglichkeit einer anderen Welt greifbar im Raum steht.
Dagegen sieht die industrielle Welt in der ich unterwegs bin, anders aus. Dreischichtbetrieb: eine Woche Früh – eine Woche Spät – eine Woche Nacht; bei Wochenendarbeit bis zu zwölf Arbeitstagen am Stück; in getakteten Fertigungen mit nur wenigen Handgriffen. Monotonie. Das reiße ich an und spreche auch den Mythos männlicher Vollerwerbstätigkeit und Arbeit an. Denn der steht einer anderen Arbeitsgesellschaft oft mehr im Weg als zu vermuten wäre. Aber alle die mal versucht haben, ergonomische Schichtsysteme einzuführen, wissen, wie massiv das ist. Deshalb versucht meine kleine Firma auch diesmal nicht über Ergonomie und andere Rationalitäten zu kommen, sondern über das Narrativ des Zeitwohlstands und dem gewünschten Streben danach!
Nach den Impulsvorträgen geht das Panel, vielmehr die Teilnehmerinnen, in drei Arbeitsgruppen, die sich mit Zeitwohlstand aus individueller, gesellschaftlicher und unternehmerischer Ebene entlang der Frage wie Zeitwohlstand im Jahr 2045 aussieht und wie wir ab heute dahinkommen beschäftigen.
Abschließend schauen wir uns die Ergebnisse des kurzen Workshops an und kommen überall eigentlich zu ähnlichen Ergebnissen: Es braucht ordnungspolitische Rahmensetzungen, die von einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung um einen nachhaltigen Umgang mit der Zeit flankiert wird, der den protestantischen Leistungsbegriff genauso angeht, wie die Geringschätzung des Flaneurs.
Da bin ich dabei, da mach ich mit.
Das Panel war gut und ich bin zufrieden mit den Ergebnissen, die sicherlich im Nachgang nochmal genauer angeschaut werden müssen.

Der Tagungstag soll mit einer Podiumsdiskussion zu den Konsequenzen niedrigen Wachstums und der Zukunft Europas zu Ende gehen, aus der dann leider nichts wurde, weil sich außer Karl Aiginger sämtliche Diskutant_innen entschuldigen ließen. Nun war ich schonmal da und so habe ich mir den Mann auch angehört. Das war recht interessant, wenn das inhaltliche Zuhören nicht gerade von seinen rhetorischen Entgleisungen gestört wurde. Dazu später mehr. Er skizzierte zunächst die sieben Transformationen, die er für den europäischen Kontext zentral hält.
Es geht dabei um den Übergang von einer Wachstums-  zu einer Gesellschaft  niedrigen oder Null-Wachstum oder gar Schrumpfung. Dem niedrigen Wachstum oder der ökonomischen Schrumpfung in Europa setzt er den Aufstieg Afrikas gegenüber. Daneben spielen der demografische Wandel hin zu einer alternden Gesellschaft genauso eine Rolle wie die Entleerung ganzer Räume. Des weiteren sieht er den Bedeutungsgewinn des Themas Klimawandel und die Krise des Narrativs der notwendigen preislichen Wettbewerbsfähigkeit, sowie eine „verantwortlich“ betriebene Globalisierung am Horizont aufscheinen. Bis auf das Thema des Aufstiegs Afrikas war das jetzt nichts wirklich Neues. Das arbeitet er auch deutlich und mit einer Vielzahl Argumente heraus. Ich merke aber das ich fertig bin und nicht mehr richtig folgen kann und will, warte aber das Ende des Vortrags ab und nehme die gut vorgetragene Kritik an seinen Sprachbildern erfreut zur Kenntnis. Dann mache ich mich vom Acker.

Nun ist das ja der letzte Abend in Jena und den will ich würdig begehen und kehre in einem netten Lokal ein, dass mir schon die Tage vorher aufgefallen war. Nach der ersten Kürbissuppe der Saison, hier ein wenig aufgeschäumt und damit leichter gemacht, gabs Hühnchen auf dreierlei Möhren und einem Bratkartoffelsoufflee. Zum Schluß Creme Brulee mit rote Grütze – Sorbet. Dazu gibt’s einen unaufgeregten, aber aufmerksamen Service und n lecker Weißburgunder. Ein rundum gelungener Abend. Die Weintanne ist echt zu empfehlen. Word!

 

Great.Transformation.Jena Tagungsbericht Tag 3

Gutes Leben, Geiles Leben. Darum soll es im ersten Panel gehen und zu richtigen Einstimmung starte ich langsam und mit dem Morgenmagazin in den Tag. Das Panel selbst startet dann ein bisschen aufgeregt, weil die Wissenschaftlerinnen sich ob der vermeintlichen sprachlichen Vulgarität des Veranstaltungstitels besonders strukturiert geben. Das hatte ein wenig was Groteskes, aber auch das kann ja auch unterhaltsam sein.
Inhaltlich ging es um die schlichte Erkenntnis, das mit dem Appell an die permanente Askese, um das Klima zu schützen und die Welt zu retten, wohl weite Teile der Menschheit außen vor wären und keinen Bock auf irgendeine Form von Transformation entwickeln würden. Folglich ging es darum, was ein gutes Leben und was ein geiles Leben ist und wie die Beziehungen zwischen diesen Leben sich entwickelt haben. Dabei wurde als gutes Leben eine nachhaltige Lebensführung mit Ressourcenschonung, Mülltrennung und Repair-Cafe etc. bezeichnet. Was auf den ersten Blick nach Prenzlauer Berg oder Glockenbachviertel klingt, war bis in die 50er Jahre weit verbreitet und endet in NAWEO (NordAmerika, WestEuropa, Ozeanien) mit der Massenmotorisierung und dem Wohlstandsgewinn für breite Bevölkerungsschichten. Im Zuge dieser ökonomischen Entwicklung verändert sich im politischen Raum auch die sozialstaatliche Zielsetzung. Es geht nun um die Verallgemeinerung und Zugänglichmachung von Konsummöglichkeiten für alle, was vielfach mit Teilhabe verwechselt wird. Umweltpolitik ist in diesem Zusammenhang nichts anders als Legitimierung der Konsumoptionen und Kosmetik an Phänomenen (Kalken gegen Waldsterben etc.).
Schlussendlich fallen gutes Leben und geiles Leben auseinander, weil das geile Leben kulturell leider durchgängig konsumistisch überformt ist. Das treibt in Zeiten wie diesen, wo die Meisten die Notwendigkeit einer guten nachhaltigen Lebensführung durchaus erkennen, aber eben auch ein geiles Leben haben wollen, merkwürdige Stilblüten. Trotz Flugscham und Zugstolz wird so viel geflogen, wie noch nie. Alle reden von einer Reduzierung des Fleischkonsums, aber jeder Dorfmetzger hat nun eine Reifeschrank für Dry Aged Steaks vom Rind!
Das Dilemma liegt auf der Hand und die Frage, die sich stellt, ist halt die, wie gutes und geiles Leben massentauglich synchronisiert werden können. Das ist eine offene Frage, sowohl politisch, als auch wissenschaftlich. Es wurde allerdings erste Befunde und Ideen genannt.
So wäre beispielsweise die Wiederentdeckung des öffentlichen und sozialisierten Konsums ein Weg, d.h. mehr Feste zusammen feiern, als das alle zu Zweit vor ihrem Weber-Grill hocken. Das geht soweit, dass sich die unterstellte entspannende Wirkung des Autoinnenraums als letztem Rückzugsraum des NAWEO-Menschen mit lauter Musik und Mitsingen, ungestraftem Brüllen und Fluchen etc. durchaus auch bei der Nutzung anderer Verkehrsmittel zeigt. Alles eine Frage des Wollens und Machens. Einfach machen. Oder mal nichts machen. Diese Frage löse ich Richtung nichts machen auf und gehe nach dem Thüringer Imbiss schlechthin, der Bratwurst, in die Horizontale.

Nach dieser meditativen Mittagspause breche ich unwillig, aber interessiert zum nächsten Panel auf, das die Sektion der Arbeits- und Industriesoziolog_innen unter dem etwas sperrigen Thema namens „(Wessen) Utopien oder Dystopien der Arbeit? Akteure, Interessen und Effekte von Zukunftsdiskussionen auf die Gestaltung von Arbeit heute“ veranstaltet. Der Titel spricht für sich, was den Zustand der Arbeits- und Industriesoziologie angeht. Finde ich. Es geht interessanterweise nämlich eher um die Betrachtung diskursiver Aspekte als den Versuch eines tiefen Verstehens von dem, was sich da tut, wo es weh tut: am Arbeitsplatz. Konkret!

Da wird es nämlich interessant und Hajo Holst macht da einen klugen Aufschlag, weil er dazu geforscht hat, wie die Transformationsthemen von Digitalisierung bis Klimawandel denn als Konsequenz für die Arbeit in der Automobilindustrie von den Arbeitnehmer_innen aufgenommen werden. Und das Bild stellt sich differenziert dar, was ja nicht überrascht. Die einen sehen Chancen, die anderen haben Angst. Geschenkt. Was interessant und diskutabel ist, dass die Belegschaften es als befremdlich empfinden, dass das Management die Offenheit des Transformationsprozesses thematisiert und dabei das was gerade in Sachen Digitalisierung kommt, als konsequente Fortschreibung bekannter Automatisierungsprozesse mit den bekannten Folgen für die Beschäftigten interpretieren.
Ich stelle mir die Frage, warum es denn problematisch ist, wenn jemand sagt, dass er was nicht weiß? Warum? Suchen die Deitschen immer noch nach dem Allwissenden? Oder ist dieses Zukunftsthema viel zu hoch aufgehängt? All die Plakate mit Future und Digital Transformation und Agility erreichen wohl niemanden, der davon betroffen ist. Also herrscht Schweigen und Misstrauen…
Die schlechte Prognostizierbarkeit transformativer Prozesse, die ja eigentlich auf der Hand liegt, scheint die Arbeitsbeziehungen also zu belasten. Das ist flankiert von der konjunkturellen Eintrübung, die die strukturellen Veränderungen nun teilweise verdeckt. Kein Befund, der Freude macht. Denn was in vielen Branchen und Unternehmen dringend nötig wäre, ist nichts weniger als eine Konversionsdebatte, was denn wie und in welchen Mengen mit welchen Ressourcen produziert werden soll. Eine solcher Prozess wird aber ohne Vertrauen, Beteiligung und Risikofreude nicht auf den Weg zu bringen sein.

Weitere Hinweise darauf, wie sich dieser Prozess gestalten lassen könnte, gab der Beitrag von Martin Kuhlmann und Stefan Rub vom SOFI in Göttingen, die sich genauer mit der betrieblichen Digitalisierungsstrategie und den dahinterstehenden Diskursen befassten. Sie unterscheiden dabei
– den Automatisierungsdiskurs,
– den Überwachungsdiskurs,
– den Wettbewerbsdiskurs und
– den Demokratisierungsdiskurs.
Diese Diskurse überlappen sich teilweise und erschweren so eine rationale Bewertung des betrieblichen Geschehens, so denn niemand der betrieblichen Akteure versucht, die Themen sauber zu differenzieren oder einzelne Aspekte schlicht ignoriert. Damit wäre zumindest ein Baustein für die oben dargestellte betriebliche Misstrauenskultur identifiziert.
Die These belasteter Arbeitsbeziehungen auf der betrieblichen Ebene, mit einem Mangel an Miteinander und einem Zuviel an Misstrauen, einem gefühlten Zeitdruck und dem Fehlen von Spielräumen, sowie eben einer flachen und altbacken auf Technik und Datenschutz fokussierten Diskussion, bestätigt sich in einigen Gesprächen, die abseits von Panels geführt wurden, leider. Da gibt es also was zu tun.

Den Abschluss des Tages bildet ein Vortrag von Andreas Reckwitz, der unter der Überschrift „Klasse als Schicksal?“ zur Drei-Klassen-Gesellschaft der Spätmoderne und dem Aufstieg der neuen Mittelklassen sprach. Die ebenfalls angekündigte Rahel Jaeggi ist leider erkrankt und der Vortrag fällt aus.
Reckwitz entwickelt ein Bild spätmoderner Gesellschaften, dass vier von ihm als Klasse bezeichnete Blöcke kennt: eine wirklich kleine, abgeschottete Oberschicht, darunter eine neue Mittelschicht und eine alte Mittelschicht, sowie ganz unten die Prekarisierten als klassische Unterschicht. Diesen Klassenformationen ordnet er einzelne Milieus aus den Sinusstudien eindeutig zu. Das ist für Reckwitz recht einfach zu machen, weil er seine Formationen aus dem Zusammenspiel von ökonomischen, sozialen und kulturellem Kapital, sowie Wertmustern und Einstellungen und, was ich dann originell fand, aus dem Mix von räumlicher Mobilität und Wohnortwahl konstituiert. Als zentrale Klassenauseinandersetzung sieht er dabei die Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Mittelschichten, die ja mit allen Mitteln geführt wird. Auf der politischen Ebene ist es der Aufstieg der Grünen als der Partei neuer Mittelschichten und dem Stellungskrieg der Partei des alten Mittelstands, der CDU, einerseits und des sozialdemokratischen Kleinbürgertums andererseits. Der Kulturkampf, der derzeit um Klimagerechtigkeit vs. Wachstumszwang tobt, ist ein weiterer Beleg für die Auseinandersetzung um die Hegemonie eines der beiden Lager, wobei die Faktizität des Klimawandels die Ausgangslage der alten Mittelschichten entscheidend schwächt. Dabei geht es bei dieser Schwächung nicht so sehr um sozialen Abstieg, sondern um die soziale Abwertung des eigenen Status. Der Metzgermeister mit drei Filialen ist nicht länger ein angesehener Unternehmer, sondern ein Tiermörder und Klimawandelbeschleuniger. Das kann schon weh tun.
Die Klasse der prekarisierten Unterschicht bezeichnet er als das sichtbare Zeichen dafür, dass der klassische Deal der Industriegesellschaft aufgekündigt ist und sich harte körperliche Arbeit nicht länger in Lohn und sozialer Anerkennung widerspiegelt. Der tränenreiche Abschied des Ruhrgebiets vom Kohlebergbau war auch der Abschied vom Bergmann, der für die Arbeit unter Tage gut bezahlt wurde und geachtet wurde. Einen tränenreichen Abstieg von der letzten Paketfahrerin oder dem letzten Fahrradkurier wird es wohl nicht geben und anständig bezahlt werden diese Beschäftigtengruppen schon gar nicht.
Was kann also passieren? Reckwitz denkt über drei Szenarien nach, wobei in allen die Oberklasse klein und abgeschottet, aber oben bleibt, was ja eigentlich schade ist.
Szenario 1: Die alte Mittelschicht wird kleiner und diffundiert in die neue Mittelschicht. Das Prekariat bleibt gleich groß. Damit ist kulturelle Hegemonie hergestellt, aber die Frage ökonomischer Ungleichheit bleibt unbeantwortet.
Szenario 2: Die alte Mittelschicht wird kleiner, weil sie auch in das Prekariat absteigt und nur ein Teil in die neuen Mittelschichten wechseln kann. Aus der neuen Mittelschicht geraten ebenfalls zunehmend Teile in eine zugespitzte ökonomische Situation und sind Teil des Prekariats. Das Prekariat wird deutlich größer.
Szenario 3: Die alte Mittelschicht verschwindet, das Prekariat wird durch Bildung, Tarifverträge und einträgliche Löhne kleiner und verstärkt die neue Mittelschicht.
Die Reihenfolge der Szenarien ist so zu lesen: Probable, Plausible and Possible! Leider. Und der ganz große Wurf ist ja auch nicht dabei, weil die Frage nach Auflösung der Oberschicht nicht einmal gestellt wurde.

So gehe ich nachdenklich in die FeWo und koche Nudeln mit Paprika-Zwiebel-Tomatensauce und Makkaroni, die ich schon ewig nicht mehr gegessen habe. Dazu einen Sauvignon aus der Region. Der ist jetzt auch Geschichte und ich geschafft von
einem nunmehr dritten Tag voller Inspiration, kluger Gedanken und Diskussionen.

Great.Transformation.Jena Tagungsbericht Tag 2

Dieses Gefühl, ein Stück von einem frischen Baguette abzubrechen und es sofort in den Mund zu schieben, nachdem man die Bäckerei verlassen hat, ist eigentlich unbezahlbar. Und wenn das Baguette dann noch wirklich gut ist, wird es richtig schön. Der zweite Tag der Tagung und ich bin immer noch in Jena und nicht in Paris. Aber hier gibt es eine zauberhafte Bäckerei in der Grietgasse 10, die alles von einer französischen Boulangerie hat. Herrlisch…

So geht es dann gutgelaunt und frisch gestärkt zur ersten Veranstaltung des Tages. Die wird vom Ökonomen James K. Galbraith bestritten, der im breitesten Texanisch zum Thema „Inequality and the end of normal“ spricht und dabei in die Vollen geht.
Zunächst macht er mal klar, dass es auf Spitz und Knopf steht, wie und ob es überhaupt mit Welt und Gesellschaft weiter geht und lässt die Möglichkeiten regionaler Atomkriege und die Wahrscheinlichkeiten des beschleunigten Klimawandels antönen. Nach dem Einstieg wendet er sich seinem Kernthema zu und wirft den politischen Akteuren vor, sich der Phantasie hinzugeben, die zukünftigen und langfristigen Folgen des Klimawandels heute mit marktwirtschaftlichen Mitteln steuern zu wollen. Diese Idee wirkt in seinen Augen noch phantastischer, weil das dieselben Leute propagieren, die die Finanzkrise als unvorhersehbares Ereignis etikettieren und damit in die Nähe einer Naturkatastrophe rücken, was sie ja beileibe nicht ist. Er folgert, das wir politisch gerade nicht in guten Händen sind.
Aber, so Galbraith, selber schuld. Die Freunde von John Maynard Keynes konnten weder politisch noch wissenschaftlich Gewinn aus diesem offensichtlichen Versagen neoliberaler Finanzökonomie schlagen.
Und das obwohl, so führt er weiter aus, lebensweltlich die Fragen von Leistung, Einkommen und Leben sich ja seit 2008 weiter entkoppelt haben. Hieraus ergeben sich dann auch Fragen an die politische Linke, die der Ökonom nicht beantworten kann, obwohl er Teil davon ist, sondern wir im Diskurs lösen müssen.

Also geht’s weiter zum ersten Panel, das sich mit „(Gegen)Hegemonie – Emotion – Transformation“ beschäftigt. Ich hatte mich für die Veranstaltung entschieden, weil es endlich auch mal um die subjektive Seite der Transformation gehen sollte. Und darum ging es auch aus unterschiedlichen Perspektiven, die von Nudging, einer Sozialtechnologie, bis hin zur teilnehmenden Beobachtung des Lebens in der Lausitz reichte. Die Erkenntnisse waren für jemanden, der schon lange Politik macht, nicht wirklich überraschend, aber das sie ihren Weg in die soziologische Diskussion finden, ist ein Schritt nach vorne. Wir müssen doch verstehen, warum sich Menschen im Angesicht von Klimawandel und Ressourcenknappheit für den Diesel stark machen; warum es einfach „Weiter so“ gehen soll und die Angst um den Arbeitsplatz in der Automobilindustrie zu Realitätsverweigerung und nicht zu Veränderungsbereitschaft führt. Und wenn wir das verstehen wollen, müssen wir auch darüber reden, dass es Klassen, Schichten und Milieus gibt, die wir mit unseren Emotionen, Werten und Ideen eines guten Lebens schon sprachlich nicht erreichen, aber müssen, wenn das mit der SÖT (sozial-ökologische Transformation. Ich liebe die Österreicher für so ne Abkürzung) was werden soll. Dann sind die 2,5 Stunden rum und die Teilnehmer_innen sind sich irgendwie einig, dass das Thema weiter beackert werden muss.

Ich gehe auch deshalb frohgemut ins Städtchen und finde den Metzger meines Vertrauens auf Anhieb, lasse mich freundlich in die Welt Thüringer Wurstwaren einführen, gehe dann in meine FeWo, called City Appartement, und kann die Vorteile einer Unterkunft mit Einrichtung voll auskosten: Es gibt Teller und Tassen, Messer und Gabel und die Brotzeit kann anders als im Hotel anständig am Tisch eingenommen werden. Das es lecker war, ist dieser netten Begegnung französisch inspirierter Backwaren und eine gute Auswahl Thüringer Würste geschuldet. Danach noch kurz horizontal und auf geht’s zum nächsten Panel.

In diesem Panel waren die Städte als Ort von (Post)Wachstum und Transformation, Gegenstand der Betrachtung. Den Auftakt machte Oliver Schwedes von der TU Berlin, der launig und plausibel argumentierte, dass sich seit vielen Jahren schlicht nichts an der Veränderung des modal split getan hat. Es fahren zwar absolut mehr Leute Fahrrad, aber weil genauso viel mehr Leute mit dem Auto fahren, ändert sich am modal split nix. Klingt komisch, ist aber so.
In der Konsequenz heißt das aber, dass politisch nichts anderes übrig bleibt als in dem Maß, wie in ÖPV und aktive Mobilität investiert wird, die Automobilität zu beschneiden, wenn ein anderer modal split her soll. Das war die erste Lektion.
Die zweite war kurz, aber folgenreich: Wirtschaftswachstum erzeugt immer auch mehr Verkehr. Wehr weniger Verkehr will, muss über Wachstum nachdenken. Basta.
Die dritte Lektion hat Feindbilder ins Wanken gebracht, weil 40% aller Verkehre Freizeitverkehre sind. Das sind also wir. Urlaub, Freunde und Familie besuchen, mal wieder in einer Großstadt shoppen oder nach Bregenz auf die Seebühne… Alles ganz normal, aber Verkehr und damit klimaschädlich…
Danach wurde therapeutisch wertvoll sanfter fortgefahren und in der Zusammenfassung des Panels wurde dann doch deutlich, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt und deshalb Infrastruktur für ÖPV und aktive Mobilität (zu Fuß und Fahrrad) gestärkt und die Autofahr- und Autoparkstrukturen aktiv geschwächt werden müssen.

Damit ist es allerdings nicht getan, weil sich Politik und soziale Akteure auch daran machen sollten, diesen Umbau transparent und plausibel zu kommunizieren. Sie müssen die Idee zu Fuß zu gehen, cool machen. Ein tolles Beispiel war der Bau von Bürgersteigen in Seattle, USA. Bürgersteige sind in den USA städtebaulich nicht selbstverständlich, aber alle, die in Europa waren kennen die, weshalb der Bau von Bürgersteigen kulturell überformt als Absicherung und Wertschätzung des Fußverkehrs wahrgenommen wird. Ein weiteres, und für mich coolstes Beispiel für ein transparentes, plausibles und cooles Instrument einer fordernden Mobilitätswende ist die Grätzloase (https://www.graetzloase.at/), wo auf Antrag Parkraum und Leerstand sozial umgewidmet werden kann. Ganz großes Kino.
Es braucht also einerseits entschlossenes Handeln politischer Entscheidungsträger und der ihnen zugeordneten Verwaltung (Hallo Klima-Kabinett) und andererseits Partizipation und Einbindung der Zivilgesellschaft.
Für dieses Andererseits war Saskia Hebert zuständig, die als Architektin an vielen Beispielen und an ihrer Biografie deutliche machte, dass sich Sozialräume nicht nur mit Beton, sondern durch Umnutzung verändern lassen. Das dazu Kreativität, ein offener Kopf und eine subkulturelle Vergangenheit gehört ist klar, oder?

Den Abschluss des Tagungstages bildete dann eine Podiumsdiskussion zum Thema „Nach dem raschen Wachstum“, die für mich deshalb interessant war, weil endlich auf großer Bühne die Subsistenzversuchung des Menschen und seine fortgesetzte Repression als zentraler Motor der Industrialisierung diskutiert wurde. Wer die aktuelle Diskussion ums „Ausschlafen als Revolution“ verfolgt, weiß, dass die fortgesetzte Repression der Kitt ist, der alles zusammenhält. Ach so, Subsistenzversuchung ist der von Prof. Streeck eingeführte Begriff, der sagt, dass Menschen über lange Zeit nicht höher gesprungen – also gearbeitet haben – sind, als sie mussten, um zu überleben und n paar Bier zu zwitschern. Fühlt sich gut an…

Ich sitze jetzt hier und reflektiere den Tag. Wenn die Subsistenzversuchung tief in uns schlummert, könnte doch genau die, der Ausgangspunkt für eine SÖT (sozial-ökologische Transformation :-)) sein, weil es aus einem Weniger an Arbeit ein Mehr an Lebensqualität geben könnte, das nix mit Konsum zu tun hat, deshalb also auch Wachstum erledigt. Das erinnert mich an einen alten Wahlkampfslogan aus Studi-Zeiten, der unser Listenkürzel DLL mit Dekadent Laues Leben! übersetzte… 🙂 Morgen geht’s weiter und hier jetzt ins Bett.

Great.Transformation.Jena Tagungsbericht Tag 1

Den ersten Arbeitstag nach dem Sommerurlaub mit einem Tagungsbesuch, der bis Freitag dauert, zu beginnen, war nicht beabsichtigt, hat aber ganz unbestreitbar was von Klassenfahrt und Exkursion. Und weil ich nunmal Gymnasiumer bin, trage ich es mit Fassung und Würde. Es geht nach Jena zur Abschlusskonferenz des DFG-Sonderforschungskollegs zur Postwachstumsgesellschaft, die unter dem Motto „Great Transformation – Die Zukunft moderner Gesellschaften“ steht. In dem Thema bin ich ja halbwegs zu Hause und so geht es gut gelaunt mit der Bahn nach Jena, wie der Sport-LK in den Ski-Kurs. Die Bahn ist pünktlich. So kann ich in Ruhe die Unterkunft beziehen und die Nachbarschaft erkunden. Das ist auch nötig, weil ich nicht im Hotel unter bin, sondern mir für die vier Nächte ein City-Appartement geschossen habe und so freie Bahn für die Erkundung der  regionalen Lebensmittelszene habe. Nun ist Jena nicht so groß, im Umfeld von 800 Metern werde ich fündig (mehr als das, da ist hie und da in den kommenden Tagen nochmal ein Blick zu riskieren) und nachdem das verstaut ist, geht’s zur Anmeldung.

Das klappt gut und ich frage mich warum auf den Buchungsbeleg, am besten Digital (wegen den Bäumen und der Umwelt), soviel Wert gelegt wird, wenn’s doch klappt. Auf Nachfrage kriege ich die universitäre Antwort: Zu Viele Anmeldungen nach Anmeldungsfrist… Lovely.

Da das Volkshaus, wo die Auftaktveranstaltung stattfindet, und der Anmeldeort a bisserl auseinanderliegen, was denen die lesen können bekannt ist, denen die irgendwie anders akademische Würden erreicht haben nicht – oder verpeilt sind -, habe ich ne Menge Spaß mit Rucksäcken, die rein und wieder rausgetragen werden, weil die Security keine Gnade kennt. Dass ich pünktlich im Saal sitze, aber alle anderen das Ding mit der Viertelstunde noch im Blick haben, ärgert mich dann wiederum etwas. Dann geht’s los. Die Veranstaltung wird mit zwei Klarinetten (ich glaub das waren Klarinetten) eröffnet, die improvisierten, wobei wohl wichtig war, damit musikalisch das Thema des Unübersichtlichen deutlich wurde. Ich sag das jetzt mal so. Von sowas habe ich keine Ahnung.

Und dann moderiert Frau von Thadden von der Zeit, also dem Hamburger Wochenblatt, den inhaltlichen Teil klug und journalistisch kurz an und Minister Tiefensee spricht sein Grußwort genau wie der OB der Stadt. Alle beiden sind hocherfreut, dass es Sozialwissenschaften gibt, die sich des Themas Transformation, das sie selber offensichtlich ratlos lässt, annehmen. Ein weiteres Grußwort kommt dann von Prof. Silke van Dyk, die herzerfrischend offen darüber spricht, wie sehr die Faktizität der Naturwissenschaften und die Krise des Kapitalismus schon 2008 die Soziologie belebt hat und wie das DFG-Kolleg die Soziologie in Jena befruchtet. Das höre ich sehr gern, weil ich mich da manchmal schon recht alleine fühle, wenn ich Ingenieure, Kaufleute und Naturwissenschaftler mit dem zutiefst Menschlichen bzw. Gesellschaftlichen ihrer Themen vertraut machen darf. Eine weitere schöne Geste, ist der gemeinsame Auftritt von alter und neuer Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, weil die eine die Gründung und die andere nun den Abschluss dieses Forschungskollegs verantwortet hat. Die eine fängt an, formuliert ihren Standpunkt, übergibt freundlich und die andere formuliert ihre Position. Ohne Schärfe. Ohne Häme. Frauen halt. Tolle Geste.

Dann dürfen Klaus Dörre und Hartmut Rosa als Direktoren des Kollegs mit ihren Grußworten ran und – ganz im Sinne des Forschungsprogramms – steht eine Vertreterin des Klimaratschlags der students for future mit auf der Bühne. Dörre beginnt und erzählt die Geschichte des Kollegs. Das macht er gut und flicht ganz nett ohne explizit zu zitieren, die Gleichzeitig des Ungleichzeitigen ein. Im Anschluss dann die Studierende, die begleitet von einem Wahnsinnsapplaus der anderen Studierenden des Klimaratschlags, die Bühne betritt und zunächst mit Leichtigkeit über sich und ihren Weg zu den schweren Themen und dann über den Ratschlag und seine Beschlüsse berichtet. Und dann habe ich Pipi im Auge. Erstens hat es wohl auch in Siegen, my hometown, eine studentische Vollversammlung zum Klimawandel gegeben und dieser Klimaratschlag aus bundesweit mehreren Hochschulen hat tatsächlich beschlossen, eine alternative Vorlesungswoche zu organisieren, in der die normalen Vorlesungen ausfallen sollen und stattdessen gemeinsam und interdisziplinär dem Thema Klimawandel gewidmet werden soll. Ich fühl mich mindestens 25 Jahre jünger in einem StuPa-Raum sitzend…
Und bleibe etwa in dem Alter als Hartmut Rosa mit Verve und Leidenschaft das Forschungsprogramm und die Themen einer Soziologie des 21. Jahrhunderts unters Publikum jubelt. Es ist ihm genau wie Klaus Dörre anzumerken, dass sie in den vergangenen Jahren im Jenaer Kolleg tatsächlich methodisch, wissenschaftsorganisatorisch/-methodisch und politisch viel geschafft haben. Er faltet rhetorisch das Programm der kommenden Tage auf, wo es neben Vorträgen und Workshops, auch Konzerte, Wanderungen, Müllkippenbesichtigungen und Yoga gibt, die eigentlich für nichts anderes stehen als eine neugierige Soziologie, die Gesellschaft verstehen und nicht analysieren will, weil es das tiefe Verstehen braucht, gerade in Zeiten der Transformation.

Deshalb hält wohl auch ein Wirtschaftswissenschaftler den eigentlichen Festvortrag. Prof. Dr. Branco Milanovic stellt seine spannenden Überlegungen zur sozialen Ungleichheit vor und gibt der soziologischen Ungleichheitsforschung zunächst mal richtig was vor den Latz. Denn: Wer nur im nationalen Maßstab soziale Ungleichheit anschaut, verkennt das Karl Marx die „Proletarier aller Länder“ nur deshalb vereinigen wollte, weil der – als guter Ökonom – wusste, dass zu seiner Zeit die Proletarier_innen in England genauso arm waren, wie die in Indien. Das hat sich dann aber geändert, weshalb es heute gilt über globale Ungleichheit nachzudenken, ohne die volkswirtschaftliche, also nationale Dimension außer Acht zu lassen, weil die nämlich bewusstseinsbildend ist. Ich habe heute den Unterschied zwischen global und international gelernt. (Es lohnt sich drüber nachzudenken). Zum Abschluss stellte er noch zwei grundsätzlichere Überlegungen vor.
Zunächst geht es um den schlichten Appell die Verringerung sozialer Ungleichheit im globalen Maßstab nicht als Gewinn in der Transformation zu sehen, weil er dem rising east und dem zunehmenden Wohlstandgewinn in Asien, der leider nicht in Yoga, sondern in Konsum aufgelöst wird, geschuldet ist.
Und zweitens macht sich der Ökonom den Spaß und indexiert das steigende Wohlstandsniveau Asiens auf 100 und rechnet die anderen Weltregionen in Relation. Ich sag mal so. Das sieht nicht gut aus, ist aber fundiert und hat mehr mit dem Wachstum Asien als mit Deppigkeit Europa zu tun. Ich mach mir also Gedanken, wie wir eine Postwachstumsgesellschaft in Westeuropa stark machen und die so cool machen, dass auch die Inder_innen kein Hühnchen mehr wollen (Der Fleischkonsum in Indien steigt gerade wie doof, wegen mittelschichtigem Status „Wir gönnen uns ja sonst nix“ – Kram). oder die Inder kommen wieder vintage und traditional drauf und die Europäer_innen entdecken deshalb auch ihren Kloß mit Sauce ohne Schweinebraten wieder…
Dann ist seine Zeit um, er hat ein paar Hausaufgaben verteilt und ich bin auch mit guten Anregungen reichlich bedient.

Also heim. Thüringische Brotzeit und n Schoppen von der Unstrut.
Regional rules! Und morgen geht’s ja weiter…
Freundschaft!

Der harte Kern der Digitalisierung

Im öffentlichen Diskurs wird weitgehend ausgeblendet, dass auch die digitale Transformation mit all ihrer Elektrifizierung, Automatisierung und Virtualisierung schlussendlich einen materiellen Kern hat. Dabei ist die Verfügbarkeit, Produktion und Verteilung dieses materiellen Kerns, der im Wesentlichen aus Metallen besteht, die zentrale Frage für ein nachhaltiges Gelingen der digitalen Transformation.

Diesem Themenkomplex breiteren Raum in der Debatte zu organisieren und ganz allgemein das gesellschaftliche „Metallbewusstsein“ zu steigern, war Gegenstand eines Workshops, der im Juli in Goslar unter Beteiligung von Branchen- und Berufsverbänden, Unternehmensvertreter*innen und Wissenschaftler*innen sowie Gewerkschaftern stattgefunden hat.

Den Einstieg in eine ausgesprochen konstruktive Veranstaltung leisteteein Vortrag, der auf die zunehmende Verunsichtbarung von Stoff, Wert und Arbeit abhob und dieses Verschwinden von Wahrnehmung am Beispiel des Smartphones durchdeklinierte.

  • Die wenigsten Menschen beschäftigen sich damit, welche Stoffe/Metalle in ihrem Smartphone stecken und zu welchen Funktionalitäten sie beitragen.
  • Da die meisten das Phone als Dreingabe zu ihrem Vertrag bekommen, kennen auch die wenigsten den Wert des Geräts, der auch nur selten ein Marktpreis, sondern ein Element der Kundenbindung ist.
  • Das alles trägt auch dazu bei, dass die Produktionsarbeit für ein Smartphone unsichtbar bleibt.

In der anschließenden Diskussion wurden diese Aspekte noch stärker herausgearbeitet und am Beispiel Rolls Royce deutlich gemacht. Rolls Roye stellt Flugzeugturbinen her und hat vor einigen Jahren das Geschäftsmodell dahingehend geändert, dass nicht mehr die Turbine an sich, sondern die geleisteten Flugstunden das angebotene Produkt darstellen. Das hat auf der einen Seite den Produzentenstolz der RR-Arbeiter*innen getroffen und ihre Stellung in der Wertschöpfungskette verändert, während andererseits durch die hinzukommenden Wartungs- und Instandhaltungstätigkeiten neue Jobs entstanden sind, die dazu beitragen die Lebensdauer der Turbinen zu verlängern, was unter Nachhaltigkeitsaspekten (wenn es nicht um Flugzeugturbinen gehen würde J) durchaus positiv zu bewerten ist.

Hier deutet sich bereits ein Pfad der Diskussion an, der im Laufe der Tagung weiter ausgebaut wurde. Es geht dabei um den sorgsamen Umgang mit den bereits im Gebrauch befindlichen Rohstoffen, sprich Metallen. Dieser Aspekt wird allgemein bejaht, fokussiert sich aber allzuoft nur auf „the end of pipe“, nämlich das Recycling. Dass es aber bereits in den Design- und Entwicklungsprozessen um eine recyclingfreundliche Produktgestaltung gehen muss, wurde insbesondere auch von den Vertretern der Recyclingindustrie deutlich gemacht, die die zunehmende Zahl von Kompositwerkstoffen sowie die Miniaturisierung des Metallanteils als große Probleme für ein marktfähiges Recycling sehen.

Nun werden sich die Metallbedarfe der digitalen Transformation nicht gänzlich aus Recyclingprozessen stillen lassen, so dass auch die Frage der Ressource, also ihre Verfügbarkeit und ihre Förderung analysiert wurde. Die Situation stellt sich so dar, dass die Metallnachfrage im Zuge der digitalen Transformation sowie der sich abzeichnenden Mobilitäts- und Energiewende steigt, was bei einer endlichen Ressource zu einem rascheren Eintritt des Fördermaximums führt. Ein erster Hinweis könnten hier sinkende Erzgehalte pro geförderter Tonne Gestein sein, die die Wirtschaftlichkeit von Förderung und Produktion nur bei steigenden Preisen sicherstellen können.

Ein weiterer Aspekt, der den Erzbergbau und die damit verbundenen Unternehmen, sowie deren Kunden zunehmend zum Handeln zwingt, sind die sozialen und ökologischen Bedingungen des Bergbaus in den Ländern des globalen Südens. Eine Teilnehmerin berichtete aus eigener Anschauung über die Situation des Bergbaus in diversen afrikanischen Ländern, die schlicht katastrophal ist. Politisch wird es hier wohl ab 2020/21 eine Regelung geben, die die Beachtung sozialer und ökologischer Mindeststandards vorschreibt.

Die abschließende Diskussion der Tagung, die die Tiefe des Themas vom Bergbau über Produktion und Konsumption bis hin zum Recycling hinsichtlich der sozialen, ökologischen aber auch ökonomischen Herausforderungen sehr deutlich herausgearbeitet hat, fokussierte sich dann auf die Frage, wie vor diesem Hintergrund das „Metallbewusstsein“ denn zu steigern ist. Die Notwendigkeit dafür, wurde von allen Akteuren bejaht und die ursprüngliche Idee eine Kampagne „Metall des Jahres“ analog „Vogel des Jahres“ oder „Schmetterling des Jahres“ auszurufen, wurde im Kern weiterhin für gut befunden. Als zentraler Schritt vorab wurde aber der weitere Ausbau der konstruktiven und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Akteuren identifiziert, was breiter Konsens unter den Teilnehmer*innen war. Ein Kernteam kümmert sich nun um Inhalt und Organisation, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Angesichts des breiten Spektrums der Teilnehmer*innen kann dies ohne Zweifel als großer Erfolg bezeichnet werden!

Von Ötzis Kupferbeil zum AllMetalsSmartphone – Was bedeutet das für Arbeit und Beschäftigung?

Klaus Mertens
Von Ötzis Kupferbeil zum All-Metals-Smartphone – was bedeutet das für Arbeit und Beschäftigung?

Einleitung
Die digitale Transformation ist in aller Munde und das Reden von einer vierten industriellen Revolution ist allgegenwärtig. Technologisch verbirgt sich hinter diesem Diskurs einerseits die Elektronifizierung und Digitalisierung der Produkte und ihrer Leistungsmerkmale sowie andererseits die Automatisierung der Herstellprozesse. Daraus entstehen allerdings auch neue soziale Wirklichkeiten, die bestenfalls in das bestehende Dispositiv der Arbeit eingepasst und schlechtestenfalls exkludiert werden oder, falls es gut läuft, für neue Wahrnehmungen und Narrative sorgen. Es braucht dazu aber bestimmte soziale Konstellationen und Zeitfenster, um mit neuen Narrativen ein Dispositiv zu verändern.
Es gibt keinen Automatismus.
Der vorliegende Beitrag will deshalb das Dispositiv der Arbeit zunächst historisch einordnen, bevor er über die soziale Figur des Metallarbeiters referiert, die sich durch die Prozesse von Automatisierung und Digitalisierung wandelt beziehungsweise wandeln wird. Im Anschluss daran geht es dann um den Versuch, das neue Gesicht der Arbeit als eine Verunsichtbarung von Stoff, Wert und Arbeit zu beschreiben und zur Diskussion zu stellen. Der Begriff Verunsichtbaren beschreibt den Prozess, mit dem Wertschätzung und sogar Wahrnehmung der Rohstoffe, des Produktwerts und der darin liegenden Arbeit in der Öffentlichkeit, wie in der Lebenswelt des und der Einzelnen schwindet. Abschließend soll eine Perspektive für die Arbeit im All-Metals-Age skizziert werden, dem Zeitalter in dem die Menschheit das gesamte Periodensystem ökonomisch bespielt. Das All-Metals-Smartphone steht dabei stellvertretend für die Produktwelt der digitalen Transformation. Ein durchschnittliches Smartphone enthält rund 30 Metalle, zu denen auch die Elemente aus der Gruppe der Seltenen Erden gehören!

eine kurze Geschichte der Arbeit
Beginnen soll diese Geschichte bei dem Mann aus dem Eis, dem sogenannten Ötzi und seinem Kupferbeil. Das Kupfer für die Klinge ist in der südlichen Toskana gewonnen worden, wurde zur Klinge geschmiedet und von dem Mann aus dem Eis getragen, der es – so ist zu vermuten – nicht selber verhüttet beziehungsweise geschmiedet hat, auch wenn er einigen Thesen zu Folge durchaus Kontakt mit der Metallverhüttung gehabt haben soll. Es lassen sich unabhängig davon, also bereits vor mehr als 5 000 Jahren, die sozialen Rollen ausmachen, die das Wirtschaftsleben bis heute kennzeichnen: Händler und Kunde, Produzent und Logistiker. Wie aber haben sich diese Rollen und ihr Zusammenspiel weiterentwickelt? Was unterscheidet die Rollen und ihr Zusammenspiel heute von der Struktur vor mehr als 5 000 Jahren?
Es sind Prozesse funktionaler Differenzierung, die schlussendlich zu hohen Speziali-sierungsgraden und hoher Komplexität in sozialen wie technisch-ökonomischen Prozessen führen, die die Entwicklung von Wirtschaft und Arbeit treiben. Während also
die stein- beziehungsweise kupferzeitliche Sippe gejagt, gefischt, genäht, gewoben, geschliffen und geschnitzt hat, gibt es dafür nun spezialisierte Gewerke, die den Wert ihres Tuns über Preise in Geld vergleichbar und damit handelbar gemacht haben.
Ein weiterer Aspekt, der bislang wohl eher weniger betrachtet wurde, sind die stofflichen und technologischen Konsequenzen funktionaler Differenzierung, die zu einer technologischen Verfeinerung einerseits und einer steigenden stofflichen Komplexität andererseits führen. Technologische Verfeinerung ist etwa die Entwicklung vom kupferzeitlichen Webstuhl, wie er im Südtiroler Archäologiemuseum zu sehen ist, mit groben Seilen und Gewichten aus Stein hin zu den vollautomatisierten Webstühlen moderner Prägung. Mit der Verfeinerung der Maschinen ist oftmals auch eine enorme Steigerung der Produktivität verbunden, die wiederum für eine räumliche Ausweitung der Märkte verantwortlich ist. Stoffliche Komplexität meint die vielfältiger werdende Zusam-mensetzung der Produkte. Das Kupferbeil des Mannes aus dem Eis bestand zu 99% aus Kupfer, während ein moderner hochlegierter Stahl je nach Legierung nur zu knapp über 90% aus Eisen bestehen kann. Deutlicher noch wird es bei Textilien, wo sich die Welt der natürlichen Wollen und Fasern ja im Laufe der Zeit zu einer bunten Mischwelt aus Kunststoff-Wollverbindungen gemausert hat.
Aber auch die Betrachtung des Smartphones, bezeichnenderweise als All-Metals-Smartphone etikettiert, zeigt die Feinheitsgrade moderner Produkte. Ein durchschnittliches Smartphone besteht zu
• 56 % aus Kunststoff
• 16 % aus Glas und Keramik
• 15 % aus Kupfer
• 3 % aus Eisen
• 3 % aus Aluminium
• 2 % aus Nickel
• 1% aus Zinn und
• 1 % aus anderen Metallen wie Gold, Silber, Platin, Palladium, Kobalt, Gallium, Indium,
Niob, Tantal, Wolfram und seltenen Erden zum Beispiel Neodym (Infostelle Mobilfunk 2015).
Das zeigt eigentlich zweierlei: Auf der einen Seite die Vielfalt der eingesetzten Stoffe und auf der anderen Seite die geringe Menge pro Produkt, die sich aber über die schiere Zahl der verkauften Produkte relativiert: In 2017 gibt es weltweit einen Bestand von 4,5 Milliarden Smartphones (de.statista.com 2017)!
Die vorstehend beschriebene Verfeinerung von Maschinen und die gesteigerte stoffliche Komplexität bedeuten für die Entwicklung von Arbeit sowohl das Entstehen von Experten für Entwicklung und Bedienung als auch das Entstehen einfacher, repetitiver Tätigkeiten, die Ergebnis höherer Automatisierungsgrade im Herstellprozess sind. Der Zusammenhang von Verfeinerung und Automatisierung besteht im Übrigen darin, dass mittels technischer Verfeinerung auch eine Prozessstandardisierung erreicht wird, die Grundlage der Automatisierung ist.
Im Zusammenhang mit der vorstehend geschilderten funktionalen Differenzierung und ihren technologischen Bedingungen entstehen immer entsprechende Dispositive (Foucault 1978), die Ausdruck des gesellschaftlichen Umgangs mit Arbeit sind. So stehen zunächst die agrarischen Tätigkeiten vom Ackerbau bis zur Tierhaltung einerseits und die Jagd andererseits im Fokus des Dispositivs, während die urbanen und handwerklichen Tätigkeiten eher eine randständige Rolle spielten. In der politischen Losung »Stadtluft macht frei« wird diese Randständigkeit politisch umgekehrt und damit in eine Richtung aufgelöst, in der die Anfänge bürgerlichen Selbstbe-wusstseins zu erkennen sind. Im Zuge der industriellen Revolution rückt dann zunächst das Bild des hart arbeitenden Menschen, in dem Fall tatsächlich das eines Mannes, der sich Erde und Maschine untertan macht, in den Vordergrund. Der Bergmann im Stollen und der Stahlarbeiter am Hochofen, die noch gefährlich nah an den Rohstoffen sind, sind bis heute Referenzpunkte für das Bild der Arbeit. Spätestens aber seit der filmischen Ikonisierung der Fließbandarbeit durch Charlie Chaplin in Modern Times rückt das Bild entfremdeter Montagetätigkeit in den Vordergrund. Im Dispositiv der Arbeit werden diese Tätigkeiten allerdings nicht positiv konnotiert, sondern als stumpf und wenig anspruchsvoll eingeordnet. Gleichzeitig entsteht mit den White-Collar-Tätigkeiten auch eine neue Form der Arbeit, die nunmehr weniger körperlich hart als geistig fordernd wird. In dem Maße, wie diese Tätigkeiten im Arbeitsmarkt dominieren, gerät auch das Dispositiv der Arbeit unter diskursiven Druck, wobei die technologische Ver-feinerung und die Automatisierung der Office-Tätigkeiten aktuell zumindest die Wahrnehmung von Arbeit verändert haben. Darauf wird später noch eingegangen. Zuvor jedoch soll, entsprechend dem Thema des Bandes, das Bildnis des Metallarbeiters genauer betrachtet werden.

das Bildnis des Metallarbeiters
Wie vorstehend schon angedeutet wurde, ist das Bild des Arbeiters am Hochofen, der in der Hitze des Feuers, das Eisen aus dem Erz holt, der es zu Strängen gießt und zu Stählen ver- edelt, nach wie vor prägend für das Dispositiv der Arbeit, insbesondere in der Metallindustrie. Richtige Arbeit ist hart, schmutzig und quasi archaisch, dabei gleichzeitig hochtechnisiert. Daneben erscheint monotone Montagetätigkeit weniger heldenhaft und moderne Facharbeit im Maschinen- und Anlagenbau zu wenig schmutzig beziehungs-weise gefährlich, als dass sie als Referenzpunkt für eine Weiterentwicklung des Dispositivs dienen könnte.
Trotzdem arbeiten deutlich mehr Beschäftigte in den Fertigungen und Montagen als an einem Hochofen. Und das Verhältnis von Blue- und White-Collar-Beschäftigten hat sich auch in der Metallindustrie längst zugunsten der White-Collar-Tätigkeiten verschoben. Die Beschäftigten hinsichtlich der Farbe ihrer Hemdkragen zu differenzieren, ist im Übrigen angelsächsischen Ursprungs und bezieht sich auf den – auch im deutschen Sprachraum ja bekannten – Blaumann für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Der weiße Kragen steht für die Tätigkeiten bei denen weder Schmutz noch Dreck zu befürchten sind, also die klassischen Angestelltentätigkeiten. Es arbeiten also die deutliche Mehrzahl der Beschäftigten fern von Hochöfen und Gusswerken und so sehen sich die meisten Beschäftigten der Branche spiegelverkehrt zum Dispositiv der (Metall-)Arbeit und werden so entweder abgewertet oder ausgegrenzt, sodass die Beschäftigten am Fließband als unqualifiziert und die White-Collar-Beschäftigten nicht als Metallarbeiter im eigentlichen Sinne etikettiert werden.
Nun steht das Bildnis des Metallarbeiters im Weg. Es stört dabei, die aktuellen technologischen Entwicklungen und ihre sozialen Verwerfungen zu begreifen. Die digitale Transformation ist eben für die Beschäftigten am Fließband nur eine weitere Rationalisierungsschleife, die im schlechtesten Fall zum Arbeitsplatzverlust führt. Und für die Beschäftigten im Büro scheint sie ein Thema ohne Bedeutung zu sein, obwohl die Digitalisierung ja zunächst in den Bürobereichen Konsequenzen gezeigt hat. Ein gutes Beispiel ist das Verschwinden der Schreibbüros und der Wandel von den klassischen Sekretariaten zu Projektassistenzen. Nun soll es aber hier nicht darum gehen, wie unterschiedliche Beschäftigtengruppen solidarisch auf diese Ver-änderungen reagieren. Es geht darum aufzuzeigen, warum sie nicht angemessen darauf reagieren. Deshalb wird an dieser Stelle noch auf einen weiteren störenden Aspekt des Dispositivs der (Metall-)Arbeit eingegangen. Es geht um die gängige, in der Metallindustrie weit verbreitete Gleichsetzung von Metall und Stahl/Eisen, die verhindert, dass qualitative Veränderungen, die sich aus der steigenden Komplexität der Stofflichkeit und der Verfeinerung im Produkt ergeben, gesehen werden können.
Aus dem herrschenden Dispositiv und seinem zeitgeschichtlichen Kontext ergibt sich auch ein Produktbild in dem Stahlcoils und -stangen, Schiffe, Eisenbahnen, Autos und riesige Maschinen vorkommen, aber keine Smartphones, Tablets und Saugroboter. Das ist im nationalen Rahmen kein Problem, weil all diese Kleinteile ja aus Asien kommen, aber für das Verstehen von Veränderung, wäre ein Gedanke an Verfeinerung und Miniaturisierung sicherlich hilfreich.
Zusammenfassend verstellt das Dispositiv der Metallarbeit, als ewig junger Schein von Hochofen und Gusswerk, den Blick auf die Veränderungen der Branche und der Welt, die sich quasi nur im Spiegel des Dorian Gray (Romanfigur von Oscar Wilde 1890/91) sehen lassen. Nachfolgend soll aber ein Blick auf die Veränderung der Metallbranche geworfen werden.

das Verunsichtbaren von Stoff, Wert und Arbeit
Ein oft zitiertes Beispiel, an dem sich die Veränderungen der Branche zeigen lassen, ist der britische Triebwerkshersteller Rolls Royce (Appel 2015). Er hat bereits in den 1980er Jahren begonnen, nicht mehr das Triebwerk, also das verarbeitete Metall, sondern die Schubstunde, die durch das Triebwerk erbrachte Leistung, zu verkaufen. Bei diesem Geschäftsmodell, das auch als Servitization (Verdienstleistung) bezeichnet wird, gerät die Hardware als Kerngeschäft fast aus dem Blick. Dieses Geschäftsmodell findet sich bei Telekommunikationsgesellschaften und Netzbetreibern wieder und wird so weit getrieben, dass das Smartphone als kostenlose Dreingabe zum Vertrag fast selbstverständlich erscheint. Ein technologisches Hochleistungsprodukt mit filigraner Verarbeitung und kostbaren Rohstoffen, wenn auch in kleinsten Mengen, wird quasi verschenkt, was angesichts der Bedeutung, die das Smartphone als Dreh- und Angelpunkt modernen Lebens hat, schon fast paradox ist. Oder ist eben nicht das Smartphone Dreh-und Angelpunkt modernen Lebens, sondern sind es die digitalen Optionen des Internets? Wenn dem so wäre, wäre eine Erklärung für die Vehemenz gefunden, mit der etwa die Automobilindustrie die Digitalisierung des Fahrens und des Fahrzeugs vorantreibt. Hier zeigt sich die Tendenz weg von Produkten hin zu Geschäftsmodellen, die Digitalität und Dienstleistung in den Vordergrund stellt, während bei der Elektrifizierung des Antriebsstrangs, also einer eher analogen Angelegenheit, doch deutliche Zurückhaltung gezeigt wird.
Unabhängig davon ist festzuhalten, dass die allgemeine Verdienstleistung auch der Metallindustrie den stofflichen Wert des Produkts und den darin enthaltenen Wert der Arbeit verschwinden lässt. Das oben beschriebene Dispositiv der (Metall-)Arbeit verhindert durch Exklusion und Abwertung geradezu sich diesen Prozessen kritisch zu nähern. Dabei stehen einige Aspekte ganz aktuell auf der Tagesordnung, egal ob es um eine nachhaltige Roh-stoffstrategie oder die Zukunft der Produktionsarbeit geht. Im Folgenden sollen diese Punkte zumindest andiskutiert werden.
Eine nachhaltige Rohstoffstrategie würde bedeuten, sich zunächst einmal für die Metalle jenseits von Eisen und Stahl zu öffnen und auch die Stoffe als kritisch zur Kenntnis zu nehmen, die zu ihrer Verarbeitung benötigt werden. Da wäre als einer dieser Stoffe beispielsweise das Helium zu nennen, das für bestimmte Schweißprozesse als Schutzgas Verwendung findet und dessen Produktion eng mit der Erdöl- und Erdgasförderung zusammenhängt. Dieser Zusammenhang führt immer wieder zu Versorgungsengpässen. Und als zentrales Metall der Elektrifizierung, die ja nicht nur den Antriebsstrang des Automobils meint, sondern eben auch allerlei kleine Helfer in Haus und Hof, die mit Elektromotoren betrieben werden, sollte die Verfügbarkeit, die Förderung, die Verteilung, die Verarbeitung und das Recycling von Kupfer intensiv diskutiert werden (Zittel 2016). Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle, dass insbesondere die Bedingungen unter denen diese Metalle gefördert werden, hinsichtlich ihrer sozialen und ökologischen Konsequenzen zu betrachten wären. Mit einem solchen Ansatz wären die zumeist nationalen Perspektiven auf Arbeit und Beschäftigung geweitet, was angesichts der planetarischen Grenzen und den weltumspannenden Wertschöpfungsketten dringend angeraten ist. Das ist allerdings trotz vielfältiger Bemühungen keine Selbstverständlichkeit. Die weltumspannenden Wertschöpfungsketten leisten nämlich einen zentralen Beitrag zur Verunsichtbarung, weil sie zumindest für die entwickelten Länder des Westens die harten, gefährlichen, unfairen und umweltschädlichen Arbeiten in die Länder des globalen Südens ausgelagert haben.
Zentrales Instrument einer nachhaltigen Rohstoffstrategie ist die Preisbildung, die marktwirtschaftlich eben soziale und ökologisch-nachhaltige Aspekte nicht einbeziehen kann, sodass hier eine politische Einflussnahme unerlässlich bleibt. Jenseits dieser Intervention wären staatliche Investitionen in Forschung und Entwicklung sicherlich angeraten, um Impulse in Richtung nachhaltiger Rohstoffstrategien zu setzen. Forschung und Entwicklung wären auch dazu geeignet, die notwendige Schaffung eines stofflichen Bewusstseins für den Wert – nicht zu verwechseln mit dem Preis oder den Kosten – eines Produkts zu unterstützen. Denn ein solches breit verankertes Bewusstsein wäre auch politisch die Voraussetzung für die Durchsetzung entsprechender Preise. Mit welchen Instrumenten die Schaffung eines solchen Stoff- oder auch Metallbewusstseins vorangetrieben werden könnte, ist zu diskutieren und auszuprobieren. Notwendig ist es allemal.
Ebenfalls dringend notwendig ist es, das Dispositiv der Arbeit zu dekonstruieren und seine Elemente und Entwicklungen auf zeitgemäße Weise neu zu verknüpfen – quasi ein neues Narrativ der (Produktions-)Arbeit aufzulegen. Das geschieht im Diskurs um die digitale Transformation bereits dergestalt, dass die eh schon geringer geschätzten Arbeiten, die zumeist hochrepetitiv sind, per se als durch Roboter zu erledigen betrachtet werden. Damit wird deren Abwertung, die bereits im Dispositiv der (Metall-)Arbeit angelegt ist, weiter fortgeschrieben und kaum jemand stört sich daran. Dabei ist dieser weitere Automatisierungsschub unter sozialen wie ökologischen Gesichtspunkten zu hinterfragen.
Zunächst stellt sich sicherlich die Frage nach dem Warum: Warum wird viel Geld in eine weitere Produktivitätssteigerung investiert, wenn doch seit Jahren die Wachstumsraten der Weltwirtschaft eher bescheiden sind? Wenn es darauf eine hinreichende Antwort geben sollte, geht es darum, ob die digitale Transformation im Produktionsbereich rohstoffseitig und preislich ausreichend und nachhaltig hinterlegt ist: Was wird aus den Menschen, die durch diese Prozesse ihre Arbeit verlieren? Und: Wie verändert sich die Arbeit für diejenigen, die in der Produktion beschäftigt bleiben?
Diese Fragen sind vor dem Hintergrund einer zunehmenden Raumunabhängigkeit der Arbeit, ausgelöst durch die technischen Potenziale von Laptop und Smartphone, die sich in mobiler Arbeit und Home-Office-Lösungen zeigt, auch unter dem Aspekt von Zeitwohlstand und Lebensqualität für den Diskurs zur Zukunft der Arbeit wichtig. Wichtig sind sie aber auch für die Frage nach dem Verunsichtbaren von Arbeit und deren Wert. Verschwindet die menschliche Arbeit aus der Fabrik und dem Büro und wo geht sie hin? Wo ist sie dann noch sichtbar und abgrenzbar von anderen Zeiten? Und welchen Status hat die Arbeit derjenigen Beschäftigten, die eben nicht raumunabhängig arbeiten können? Entstehen hier neue Ungerechtigkeiten?
All das muss zwingend gesellschaftlich verhandelt werden, weil sich bereits Bereiche zeigen, wo die Bereitschaft für genutzte Produkte auch zu bezahlen, zumindest in Deutschland außer-ordentlich gering ist. Die Rede ist vom Online-Journalismus, der mit seinen kundenbasierten Zahlungsmodellen immer noch defizitär ist und sich über Werbung finanzieren muss. Ein anderes Beispiel ist die Software-Entwicklung, wo sich die App-Entwickler zum Teil nicht über Verkaufszahlen, sondern über Kundendaten refinanzieren. Hier wird der eigentlichen Arbeit, dem Schreiben oder dem Entwickeln, vom potenziellen Kunden keinerlei Wert mehr beigemessen. Genauso wie bereits geschildert, ja auch das Smartphone als kostenlose Dreingabe zum Mobilfunkvertrag gesehen wird.
Zusammenfassend ist vorstehend aufgezeigt worden, wo aktuell Momente der Verunsicht-barung von Stoff, Wert und Arbeit erkennbar sind und wie sie, flankiert von dem aktuellen Dispositiv der Arbeit, das Gestalten einer rohstoffsensiblen, sozial und ökologisch nachhaltigen Zukunft für Arbeit und Beschäftigung erschweren. Das hat die fatale Nebenwirkung, dass die konkret stattfindenden Veränderungen im Dunklen und Vernebelten stattfinden. Licht in dieses Dunkle zu bringen würde aber demzufolge mehr bedeuten als mit Zahlen, Daten, Fakten Transparenz in die Themen zu bringen und diese in der öffentlichen Meinungsbildung sichtbar zu machen, sondern eben auch an dem Bezugsrahmen zu arbeiten, in den diese Informationen eingeordnet werden. Der folgende Abschnitt will versuchen, einige Perspektiven aufzuzeigen, die sich aus einem solchen Prozess entwickeln könnten.

Perspektiven der Arbeit im All-Metals-Age
Die ökonomische Verwertung der Elemente des gesamten Periodensystems, insbesondere der Metalle und Metallsalze ist in weiten Teilen sowohl der digitalen Transformation als auch der Automatisierung beziehungsweise Elektrifizierung vieler manueller Tätigkeiten geschuldet. Daraus ist eine hochvernetzte Welt entstanden, in der Wissen und Information schnell und umfassend zur Verfügung steht. Ob daraus eine Welt entsteht, in der alles was zu automatisieren ist, auch automatisiert wird, ist offen.
Ein verhalten optimistisches Szenario sähe dann in etwa so aus: Der Anteil von Blue-Collar-Beschäftigten in der Industrie wird sich weiter zugunsten von White-Collar-Beschäftigten absenken, was sich zumindest in der Metallindustrie bereits deutlich abzeichnet. Im Logistikgewerbe sind zwar ähnliche Trends zu beobachten, aber die Zahl der Beschäftigten wird in diesem Sektor wohl dennoch eher steigen. In den personenbezogenen Dienstleistungen wird die Zahl der Beschäftigten steigen. Leider werden die Arbeiten sowohl in der Logistik als auch in den personenbezogenen Dienstleistungen schlechter entlohnt als in der Produktion oder den produktionsnahen Bereichen. Die Perspektiven für Handwerk und Landwirtschaft sind recht differenziert zu betrachten. Die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten in Vollzeit wird insgesamt sinken.
Ein Szenario, das die wesentliche Ansage dieses Beitrags aufgreift, nämlich eine gesell- schaftliche Perspektive der Arbeit vor dem Hintergrund einer sozial und ökologisch nachhaltigen Rohstoffstrategie zu entwickeln, sähe dann anders aus. Sie würde wohl etwa so aussehen:
In der Industrie haben auch die Blue-Collar-Beschäftigten einen hohen Zeitwohlstand, der sich durch intelligente Arbeitszeitsysteme und das Recht auf Teilzeit ergibt. Die Arbeit ist anspruchsvoll. Repetitive Arbeiten sind automatisiert worden. Die ergonomischen Ansprüche sind hoch. Planerische und kreative Tätigkeiten gewinnen an Bedeutung. Die Portfolios der Betriebe entsprechen den gängigen Nachhaltigkeitskriterien. White-Collar-Beschäftigte sind weiter hochqualifiziert und haben gelernt, mit sozialer Komplexität und Ressourcenknappheit umzugehen. In der Logistikbranche sind insbesondere an der letzten Meile viele Arbeitsplätze entstanden, die die Innenstädte und Endkunden mit Pedelecs (Elektrofahrräder) und Lastenrädern beliefern. Genau wie bei den personenbezogenen Dienstleistungen genießen die Beschäftigten hohe Wertschätzung und verdienen entsprechend. Die Beschäftigtenzahlen in Handwerk und Landwirtschaft sind gestiegen, weil es insbesondere junge Menschen in die Bereiche zieht, wo sie regional orientiert mit den Händen etwas schaffen können. Sie nutzen ihre digitale Kompetenz um sich zu organisieren und mit Kunden und Lieferanten zu vernetzen. Die Bereiche profitieren insgesamt vom Trend zu handwerklichen Produkten und dem Ende der agrarindustriellen Ausbeutung von Boden und Tieren.
Bei dem letztbeschriebenen Szenario könnte der Eindruck entstehen, dass es sich um ein bloß analoges Bild handelt. Das wird es aber keineswegs sein, weil auch eine sozial und ökologisch nachhaltig angelegte Welt auf die Möglichkeiten der digitalen Transformation nicht verzichten kann und will. Allerdings wird es nicht digital um jeden Preis sein müssen. Den Preis dafür auszuhandeln, ist Aufgabe der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um das Dispositiv der Arbeit und die digitale Transformation!

Literatur
Appel, Helmut; Ardilio, Antonio; Fischer, Thomas (2015): Professionelles Patentmanagement für klein- und mittelständische Unternehmen in Baden-Württemberg. Stuttgart: Fraunhofer IAO.
Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
de.statista.com (2017): https://de.statista.com/statistik/daten/studie/312258/umfrage/weltweiter-bestand-an- smartphones/ – Zugegriffen: 18.08.2017.
Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve. Foucault, Michel (2008): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 9. Auflage. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
Haipeter, Thomas; Somka, Christine (2014): Industriebeschäftigung im Wandel – Arbeiter, Angestellte und ihre
Arbeitsbedingungen. Duisburg: IAQ-Report.
Infostelle Mobilfunk (2015): Rohstoffe und Lebenszyklus eines Mobiltelefons. http://informationszentrum-
mobilfunk.de/sites/default/files/IZMF_Factsheet_Lebenszyklus_2015.pdf – Zugegriffen 18.08.2017. Jones, Owen (2012): Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse. Mainz: Thiele.
Powershift e. V. (Hg.) (2017): Ressourcenfluch 4.0. Die sozialen und ökologischen Auswirkungen von Industrie 4.0 auf den Rohstoffsektor. Berlin: Powershift.
Zittel, Werner (2016): Die geologische Verfügbarkeit von Metallen am Beispiel Kupfer. In: Exner, Andreas; Held, Martin; Kümmerer, Klaus (Hg.): Metalle in der Großen Transformation. Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum: 87–108.

106. Etappe: Pedrouzo – Santiago de Compostela

Um Gottes Willen, sind die alle aufgeregt. Klar. Heute geht es aufs Ende zu, Santiago, aber ich bin nicht bereit, das im Sinne eines „So, jetzt ist das geschafft“ zu sehen, sondern eher so, irgendwie anders. Ich weiß es auch vielleicht deshalb nicht so genau zu beschreiben, weil die Dödel für 14km morgens um sechs aufbrechen. Da lieg ich noch. Und dreh mich rum. Beim Rumdrehen fällt mir ein,  daß die deshalb Freitags spätestens um Zwölfe da sein wollen , weil sie dann garantiert dieses Mordsweihrauchfaß mitkriegen. Sehen würde ich das auch gerne mal, aber was hat das mit meinem Weg zu tun?

Die letzten Kilometer sind für mich natürlich auch was ganz Besonderes. Immerhin bin ich jetzt seit vier Monaten und zwei Tagen unterwegs. Zu Fuß. Mit 12Kilo Gepäck. Und das geht  nun Zuende. Hm. Geht das zu Ende? Oder sind da Links gelegt, wo das weitergeht. Wo ist auch die Heraussforderung die gesponnenen Gedanken in einer industriell-tradeunionistischen Gesellschaft zu strukturieren und in Projekten zu konkretisieren? Ich weiß es nicht, dreh mich nochmal um und komme gegen Neun los.

Allen anderen, mit ähnlichen und anderen Gedanken, geht es wohl ähnlich, weil die Einkehrdichte und -häufigkeit deutlich zunimmt. Ich gehe an den meisten vorbei, weil es schwierig ist. Als eineWoche-zweiWochen-100km-Gruppe hast du andere Dinge im Kopf als ich, und dann feierst du dich als Gruppe. Erstaunlich finde ich tatsächlich dieses Gruppen-T-Shirt-Austeilen, damit auch einheitlich in Santiago aufgelaufen wird. Natürlich in Funktionsshirts. Das ist auch nett, aber mir ist das „Ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform“ so in Fleisch und Blut übergegangen, daß ich es nicht mag. (Das gilt nicht für die Rettungsdienste und die Feuerwehr. Thank you, every day!) Ich find dann trotzdem was kommodes und ernte das größte Bocadillo meines Lebens. Zwei Hand lang, eine Hand breit. Frisches Brot gefüllt mit Tuna, Tomates y Zwiebeln… So satt. Ich wollte ein Bocadillo, keine Familien-Packung, aber so lecker.Natürlich ess ich es auf. Und gehe dann weiter. Smoothy. Also nicht ganz so schnell.

Trotz alledem bin ich dann über den letzten Hügel und schaue auf Santiago. Ich sehe die Stadt und fange ganz schlicht das Heulen an. Ich bin da. Der kleine, dicke Mertens ist den Weg gegangen. Und als ich tränenverhangen meine ein Foto schießen zu wollen, fragt mich ein spanischer Papa, ob alles ok ist, und ich erzähle dem Papa, der Mama und den zwei niños die Geschichte und dann klatschen die. Das macht es nicht besser, ist aber so schön. Danach kann nichts mehr kommen. Ich gehe in die Stadt, Richtung Stadtmitte und bin dann da. Stehe mit meinen 12Kilo all inclusive auf dem Platz vor der Kathedrale und bin ganz komisch unberührt. Stehe da und denke… nichts. Auch gefühlsmäßig macht sich nichts breit, weder Trauer, noch Freude. Obwohl ich natürlich schon reichlich froh bin, daß ich das geschafft habe und das es in Gänze bis hierhin reichlich klasse war. Dankbarkeit entsteht, dafür, daß das möglich war und ist, sowie dafür das es gut gelaufen ist. Ein ziemliches Kuddelmuddel. Also erstmal was vernünftiges tun und einchecken. Ich habe mich für drei Nächte in einem kleinen familiengeführten Hotel am Rande der Altstadt eingemietet, weil so a weng was Besseres darf es dann zur Belohnung doch sein. Ich wäre ja nicht ich, wenn ich mich ohne Not kasteien würde. ☺

Das Hotel übertrifft die Erwartungen. So sympathische und feine Leute. Directement zu Beginn beim Einchecken entspinnt sich mit der Tochter des Hauses, die Englisch kann, ein interessantes Gespräch über die aktuelle Situation und das nordspanische Spannungsfeld zwischen Machismo und Matriarchat in Bezug auf Frauenerwerbstätigkeit einerseits und die Feminisierung der Gesellschaft andererseits, weil sie Sorge hat, daß sich Frauen die Karriere machen wollen, ihrer weiblichen Werte entledigen. Die Sorge kann ich als jemand aus dem Land von Angela Merkel leider nicht nehmen. Das Gespräch wird rüde durch die Ankunft weiterer Gäste unterbrochen und ich beziehe mein Zimmer.

Abends ziehe ich dann los und erkunde die wunderschöne Stadt. Ich hatte mir allerdings auch schon per Internet ein Restaurant ausgeguckt, das allseitig empfohlen wurde. Kurz bevor ich das Restaurant erreiche, entdecke ich den Dell-Mann, also der mal für Dell gearbeitet hat und denn ich tageweise zwischen Logroño und Burgos immer mal wieder getroffen habe. Großes Hallo und natürlich stoßen wir gemeinsam an. Er ist in Begleitung einer ehemaligen NYPD-Mitarbeiterin, die den Camino in 24 Etappen hinter sich gebracht hat. Die lustige Geschichte, die der Camino mit den Beiden geschrieben hat, ist die, daß sie sich am Flughafen in Toulouse kennengelernt haben, aber beide aus Austin, Texas kommen und keine fünf Kilometer auseinander wohnen und sich wohl nie kennengelernt hätten. Wir drei kommen gut klar, haben denselben Humor und es wird viel gelacht. Als alle Hunger haben, wollen wir ins ausgeguckte Resto wechseln, daß aber bereits ausgebucht ist. Es gibt allerdings einen Ableger, der ein Tapasmenü anbietet. Also Straßenseite gewechselt und einen Platz ergattert. Was dann kommt, ist eine kulinarische Offenbarung. So geil. Zu Beginn dreierlei Meeresfrüchte. Austern, kleine Langustinos und Miesmuscheln. Toll und meine Premiere mit Austern. Lecker, aber muß man nicht so ein Drama drum machen. Weil rausgehauen hats die Vinaigrette, die das Salzige der Auster aufgegriffen und mit kleingehacktem grünen Paprika schön rund gemacht hat. Dann gibts Navajas (Schwertmuscheln)  vom Grill. Zarter Rauch umhüllt das knackige Muschelfleisch. Sehr lecker und Ahs und Ohs ersetzen das Tischgespräch. Darauf kommt ein Stück Fisch mit einem Kartoffelpü, das auf Kräutern schwebt. Super. Zum krönenden Abschluß wird eine Eigenkreation des Hauses serviert. Gegrillte Chorizo und geröstete Brotkrumen schwimmen auf einer Eierpampe. Das Ganze wird miteinander verrührt und mit dem Löffel gegessen. Klingt irgendwie komisch, ist aber herrlich. Dann ist das Menü auch verzehrt und der Service komplimentiert uns in den Loungebereich auf der Straße. Also hocken wir drei selig grinsend auf Palettenmöbeln und leeren bereits die zweite Flasche Wein, einen wirklich guten Godello, der in seiner Trockenheit gut zum Fisch gepasst hat. Das Gespräch plätschert und da die beiden morgen einen Tagesausflug unternehmen wollen, löst sich die Runde auf. Ich mache mich auf den Heimweg und bin froh diesen Tag, das Ende des Weges, nicht alleine gefeiert zu haben, sondern mit zwei netten Menschen, die ihren Weg auch gegangen sind. Das ist einfach besser als, und sei das Essen noch so gut, da alleine zu hocken und vor sich hin zu grübeln. In der Hotelbar gibt es noch einen roten Absacker. Und dann ist Ausschlafen angesagt, ohne Packen zu müssen…

Ich schaffe es auch ganz prima bis zehn liegenzubleiben, um mich dann frischzumachen und Richtung Altstadt zu gehen. Heute ist nämlich Sonntag und um 12.00h ist Pilgermesse. Als guter Katholik halte ich das für eine runde Sache. Als ich um viertel vor um die Ecke biege, erlebe ich eine böse Überraschung. Complet. Die Kirche wäre schon bis zum Rand gefüllt. Ich bin echt enttäuscht, aber morgen ist ja auch noch ein Tag und die Messe wird jeden Tag gelesen. Alternativprogramm wird dann das touristische Drumrum. Souvenirshops abgrasen und Fotos machen. Das mit den Souvenirshops passt vielleicht nicht so ganz zu mir, aber ich bin wild entschlossen, mir ein Andenken zu kaufen. Irgendwas cooles. Es wird ein T-Shirt, nicht originell aber platzsparend. Und ein Schlüsselanhänger, genauso einer, wie ich den schonmal gekauft habe, als ich mit dem Motorrad hier war. Den hab ich allerdings verloren, was ja wieder passieren kann. Ich kaufe drei Stück. Ich bummele weiter und irgendwer, der Spaß an meiner kulinarischen Freude hat, führt mich in eine Tapasbar, die ich in den kommenden Tagen noch zwei Mal besuchen werde. Das weiß ich noch nicht, wie ich mich setze und ein kleines Bier bestelle, aber jetzt, wo ich da war, ist es eine Tatsache. Zunächst bestelle ich ein kleines Bier und ein Tapa mit gegrilltem Lauch auf Piemento garniert mit Sardelle. Ganz schlicht, aber zum Bier groß. Dann entdecke ich eine ganz kleine Weinkarte. Die drei Weißen Galiciens und den Roten. Zu jedem Wein ein anderer Winzer und Basta. Da hat jemand Erfahrung und Mut eine Entscheidung zu treffen. Ein trockener Godello begleitet mich durch weitere Tapas, eine Käsekrokette, ein Lachs-Möhren-Salat und ein Rührei mit Waldpilzen. Alles ist von ausgesuchter Qualität und schmeckt richtig lecker. Ich bin begeistert. Natürlich auch weil das Team hinter der Theke richtig gut ist und sich nicht auf den Füßen steht. Einer der Kollegen spricht sogar deutsch, weil er aus der DomRep über Berlin nach Santiago gekommen ist. Die Zeit vergeht fluffig und es schlägt Siesta. Also ab aufs Bett. Sich von Olympia berieseln lassen und wegdämmern hat auch was.

Abends gehe ich dann wieder los und irgendwas treibt mich auf den Platz vor der Kathedrale, wo die Pilger ankommen. Anscheinend will ich, der so gerne für sich ist, doch den ein oder die andere wiedersehen, sich beglückwünschen und ein paar Worte wechseln, wie am Nachmittag mit dem Mutter-Tochter-Pärchen, die ich vor Sahagun getroffen habe. Die hatten es nun auch geschafft, man freut sich miteinander und erzählt sich Sachen, die man dem Sitznachbar im ICE niemals ans Bein binden würde. Die Beiden wollen weiter nach Marseille, um dort noch ein paar Tage runterzukommen. Das haben sie als 14Tage-Wandererinnen sich nach dem ersten Mal angewöhnt, weil sie dem Mann im Haus mit ihren Geschichten und Vertraulichkeiten wohl arg auf den Wecker gegangen sind. Ich bin ja mal gespannt, wie das bei mir wird… Naja, mittlerweile ist alles auf den Beinen und die abendliche Runde wird gedreht. Ich teste zwei weitere Tapasbars, und lande wieder in meiner Stammbar. Ich probiere mich weiter durch, rede ein wenig mit einem amerikanischen Pärchen, die mit Mutter und Bruder über Lissabon und Fatima nach Santiago sind, um morgen nach Rom zu fliegen. Wir reden über Jerusalem und Israel, über Portugal und Trump. Die zentrale Aussage ist die, daß Trump die Leute einsammelt, die die Schnauze voll vom Establishment und der politischen Klasse haben. Das geht in die Richtung, die ich in Frankreich schonmal konstatiert habe. Der Staat wird nicht als Plattform, sondern als Beute der Mächtigen und Repressionsapparat gesehen. Und dieses Gefühl löst sich eher nach rechts auf. Das ist für sozialstaatsfixierte Linke ein echtes Problem… Mit dem Problem bleibe ich alleine und gehe heim. Meine Kickers haben ihr erstes Zweitligaspielmit 2:1 verloren und ich bin in Santiago. Wenn es dicke kommt, kommt alles zusammen. ☺

Montag morgen. Neue Woche. Und ich hab Stress. Deshalb geht es früh los, Richtung Decathlon. Ich brauche nämlich eine größere Tasche, weil ich ja nun auch wieder für die verbleibenden sechs Wochen in Spanien mal was anderes tragen will als Outdoorklamotten. Und für das geplante Relaxing aufm Campingplatz am Meer brauch ich auch noch n paar Kleinigkeiten. Also los. 4,5km einfache Strecke ist ja ein Klacks. Echt. Zack bin ich da, finde was ich brauche und zack bin ich auch wieder im Hotel. Zack meint eine Stunde. Da hat sich bei mir echt a weng was verschoben. Nun aber schnell geduscht und ab Richtung Pilgermesse. Diesmal kriege ich einen Platz, sogar einen Guten. Die Messe soll für mich der rituelle Schlußpunkt der Wanderung sein, weshalb mir recht feierlich zu Mute ist. Die Messe wird auf spanisch gehalten, was mich nicht stört, weil der Ablauf ja derselbe ist wie daheim. Es ist ein schönes Gefühl, da im Kreis der Mitwandernden zu stehen und das ganze wird noch durch eine große Zahl brasilianischer Pfadfinder aufgewertet, die in ihrem Dress angetreten sind. Den Pfadfindern ist es auch zu verdanken, daß ich an einem Montag erleben darf, wie das große Weihrauchfaß, der Botafumeiro, geschwenkt wird. Das wird in der Regel nämlich nur Freitags angeschmissen. Ich freue mich wie Bolle, das in echt zu sehen. Ganz groß.

Nach der Messe geht es in die Stammkneipe auf ein Bier und zwei Tapas, ein Stückchen Tortilla und ein Kalbfleischsspieß mit Zucchini und Pilzen. Dann in die Markthalle und zwei Nektarinen gekauft. Als Nachtisch auf der Parkbank gegessen und heim. Nun sitz ich hier und schreibe. Wie es mir letztendlich damit geht, daß der Weg nun gegangen ist, kann ich immer noch nicht sagen. Was ich sagen kann, ist, daß ich gestern und heute die Latscherei nicht wirklich vermisst habe. Gleich werde ich aber noch die Fahrkarte nach Orviedo besorgen, dann meinen letzten Abend in Santiago begehen und in den kommenden Wochen weiter in mich reinhorchen.

Damit endet aber das Kapitel „Vino, Guerra y Camino“ auf diesem Blog. Ich hoffe, es hat ein wenig Spaß gemacht mir zu folgen. Vielleicht hat es ja auch zum Nachdenken angeregt oder auch Lust gemacht sich selber auf irgendeinen Weg zu machen. Das kann ich auf jeden Fall uneingeschränkt empfehlen.

Bedanken möchte ich mich bei all denen, die mich mit ihren Kommentaren hier oder auf fb aktiv unterstützt haben. Und natürlich bei der, mit der ich jeden Tag telefoniert habe, meiner Liebsten. Von einem lieben Menschen mußte ich in der Zeit Abschied nehmen, einer ist schwer erkrankt, aber auf dem Weg der Heilung, einige haben enge Angehörige verloren, andere wiederum wissen nun, daß sie Eltern werden. Ich habe an Euch gedacht. Ihr ward bei mir.

You’ll never walk alone! 

105. Etappe: Melide – Pedrouzo

Jetzt sitze ich hier am Vorabend der letzten Etappe und will was über heute schreiben. Die vorletzte Etappe. Die Situation ist aber gerade dadurch geprägt, daß ich da hocke, wo Hinz und Kunz seinen letzten Abend auf dem Camino feiert. Deshalb muß sich die Gastronomie eh nicht reinhängen, weil die Leute ausgelassen genug sind. Das ist einerseits schön, andererseits zwingt es mich dazu außerhalb der Partyzone was zu suchen. Ich finde dann auch was. Sopa de Fideos als Vorspeise, was eine schlichte Nudelsuppe, verfeinert mit Safran, meint. Und der Safran haut es halt raus. Vor einigen Tagen habe ich am Nebentisch Leute gesehen, die genau die Suppe bestellten, gegrillte Piementos, Chorizo und Langustinos als Raciones dazu orderten und die dann einzeln oder gemischt in die Suppe warfen oder dazu gegessen haben. Die hatten einen Heidenspaß und sowas kann man ja auch mal nachkochen. Dann gab es ein Schweinegeschnetzeltes a la Chorizo, also scharf gewürzt mit Pommes und, echte Überraschung, einen Beilagensalat, der üppig und von der Küche mit einer dazugehörigen Salatsauce versehen war. Der Wein dazu kam aus Spanien und war in Lugo abgefüllt, aber wer will für die 13Euro mehr verlangen wollen? Da habe ich für deutlich mehr Geld schon geringere Lebensmittelqualität und Kochkompetenz am Gaumen gehabt.

Derart gesättigt und gestärkt geht es zurück in die Partyzone. Dachte ich. Die hat sich dann doch um zehn schon merklich geleert. Und dann fällt es mir, wie Schuppen aus den Haaren. Für die 100km-Wanderer ab Sarria, die sich dafür eine Woche Zeit nehmen, ist das morgen die zweite längere Etappe, nämlich satte 21km, was mir mittlerweile wie ein längerer Spaziergang vorkommt. Nun entwickele ich aber Verständnis für die 100km-Leute, hab aber keineswegs die Lust morgen früh aufzustehen und das runterzureißen. 

Es soll dieses Auslaufen werden, was ja in den letzten Tagen schon begonnen hat und heute einfach weiterging. Das hat zum Teil mit der Landschaft zu tun, die irgendwas von deutschem Mittelgebirge hat, egal ob Rothaargebirge, Rhön oder Steigerwald. Weil es in den letzten Tagen mal wieder schlechte Nachrichten hagelte, spielt die Landschaft aber nur die zweite Geige. Ich trödele und schweife rum und denke in Liedern. Dabei kommt mir als erstes „So nimm denn meine Hände“, mittlerweile als Trauerlied anerkannt, aber meine Eltern haben damit noch geheiratet, in den Kopf. Weiter geht es mit dem geliebten „Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde“. Danach gibt mit Sin Dios „Alerta Antifascista“ was auf die virtuellen Ohren und ich lande bei „Gegrüßet seist du Königin“. Die Playlist, beileibe nicht vollständig, steht für all das, was mir durch den Kopf geht. Ich habe mir mit 50 die Zeit genommen vier Monate rumzustrolchen, Erfahrungen zu machen und mir Dinge genauer anzugucken und zu durchdenken. Das ich dabei gut gegessen und getrunken habe, ist ja eh klar. Derweil hat sich diese Welt weitergedreht, was sie selbst in meiner Anwesenheit vor Ort getan hätte. So vermessen bin ich nicht, aber es sind eben auch Leute gestorben oder liegen im Sterben, die sich immer einer Aufgabe, einem Auftrag verpflichtet gefühlt haben, und das muß nicht mal moralisch überhöht werden, die haben eigentlich immer nur gearbeitet. Und mir wird bei der Singerei, also eher Summerei -keine Auffälligkeiten- dieses Riesenglück klar, daß ich da arbeite, wo ich arbeite; daß wir diese sensationell geile Betriebsvereinbarung haben; daß meine Liebstse das mitmacht und das ich nicht Spitz auf Knopf genäht bin. Und ich mir eigentlich auch wünsche, daß vielmehr Menschen diese Chance kriegen und nutzen, um eben zu merken, daß Arbeit, egal wie cool, eben nicht alles ist.

Ich gehe weiter, und mache Pause. Und entdecke beim Sinnieren über meinen prima Rucksack, daß die Schulterpolster zur Seite rausquetschen. Die sind nun also auch platt. Ich hatte mir die Tage schon Gedanken gemacht, ob meine Schultern jetzt doch schlapp machen, aber es wird halt nix mehr gedämpft, was das Ziehen in den Schultern erklärt. Ich bin mal gespannt, ob sich das Schaumstoffzeigsl wieder aufrichtet, wenn es mal drei Tage in der Ecke steht. Der Tip für Leute, die ähnlich lang oder länger gehen wollen, lautet also: Lieber n Rucksack nehmen, der auf höheres Gewicht ausgelegt ist und trotzdem eiserne Packdisziplin halten.

Nächste Ruhepause, ne Stunde vor dem Etappenziel, deshalb jetzt n kleines Bier. Familie mit vier Kindern kommt an. Die beiden Kleinsten quengeln, also Pause. Mutter holt ein Kartenspiel raus und fängt an, was zu spielen (Gibts in Deutschland auch. Geht nicht um die Karten, sondern um die Reaktionsgeschwindigkeit). Die Kurzen sind sofort dabei. Müdigkeit und Quengeln sind vergessen. Nach zwanzig Minuten fragt der abseitig dösende Papa, ob denn nun alle wieder fit wären, es wäre ja auch nicht mehr lang. Dann könnte ja weitergespielt werden. Zack, und die Bande steht parat… Das war schön anzusehen und es gab einige Eltern(teil)-Kind-Gruppen auf dem Weg, wo ich mir das gedacht habe. Wie schön. Daß was unsereins mit der Caritas-Kinderfreizeit erlebt und gelernt hat, mit den eigenen Eltern auf so einem internationalem Weg, wie diesem Camino, zu erleben. Daß die Eltern(teile) alle pädagogisch durch „Psychologie Heute“ und „Eltern“ geschult waren und nicht morgen wieder am Fließband stehen, ist leider auch Tatsache. Zeit, das zu ändern. Naturfreunde, olè! Ich freue mich drauf, da im Herbst mit anzupacken. Diese Organisation hat soviel Tradition, so viel Erfahrung in genau den Fragen, die mich auf dieser Wanderung umtreiben. Das wird prima.

Und jetzt bin ich alles losgeworden. Nein halt, als ich auf dem Weg nach Hause bin, treffe ich einen der Zottels, samt Hund und neuer Freundin wieder, die ich in Saint Jean kennengelernt habe. Er latscht mittlerweile mit der neuen Perle alleine, was ich ja wußte, weil die anderen Zottels habe ich schon hinter dem Cruz de Fero getroffen. Und da hocken wir im Park und quatschen, unterhalten uns, ob der Camino ein Ende hat oder man auf dem Weg bleibt, wenn du den erlebt hast. Und wie lange es sich denn lohnt in Santiago zu feiern und was danach kommt. Ich bin ja fein raus. Der Bursche muß gucken, wie er mit dem Hund zackig nach Paris kommt und hat noch keine kostengünstige Idee, weil bei der Größe muß er für den Hund den Viehtransport bezahlen. ☺. 

So, jetzt aber um. Die haben nu schon den Rasensprenger angeschaltet… während ich noch da sitze und schreibe. Ignoranten.

104. Etappe: Palas de Rei – Melide

Es regnet. Endlich mal wieder. Ich hatte fast vergessen, wie sich das anfühlt. Und für viele Mitwanderer ist das ganz offdnsichtlich eine neue Erfahrung, wie die Schlange vor den Geschäften, die Ponchos verkaufen, zeigt. Da haben wohl wenige dran gedacht, obwohl Galicia für seine Niederschläge auch bekannt ist. Naja ich mache mich in alter Routine regenfest und stiefele los. Daß ich die anderen WandererInnen überhaupt mitkriege, hat damit zu tun, daß die gewartet haben, ob es aufhört zu regnen und ich schlicht liegen geblieben bin. Es geht heute nur auf dreieinhalb Stunden nach Melide und da habe ich eigentlich alle Zeit der Welt. Natürlich dachte ich auch, daß die Corona längst über alle Berge ist. Fehlanzeige. Denn just zu dem Zeitpunkt, an dem ich los will, entscheiden sich auch viele andere dazu. Blöd gelaufen.

Also gehe ich als einer der wenigen ohne Clique, Freund oder Freundin und meine Zwiegespräche verlaufen leise. Hoffe ich zumindest, nicht das ich mir das vor mich hin Brabbeln angewöhnt habe. Die anderen unterhalten sich auf jeden Fall in der üblichen Lautstärke, also landsstypischen Lautstärke. Das macht diesen Spaziergang durch grünes, galicisches und regenverhangenes Hügelland nicht zu dem Ausflug in den Zauberwald, der es ob der Äußerlichkeiten sein könnte, sondern ich wandere einfach vor mich hin.

Und komme dabei natürlich ins Grübeln. Ich bin genau heute seit vier Monaten auf der Walz und übermorgen ist das vorbei. Dann habe ich zwar noch was vor, bis ich im Oktober wieder am Schreibtisch sitze, aber dieser Weg ist dann zu Ende gegangen. Auf der einen Seite bin ich froh, es geschafft zu haben, wenn nix schlimmes mehr passiert, auf der anderen bin ich traurig, daß es vorbei ist. Dabei trifft es traurig gar nicht richtig, vielmehr habe ich Schiß die Routine, die auch in diesem Vagabundenleben steckt, wieder gegen andere Routinen einzutauschen und mache mir Gedanken was von der einen Routine den transferwürdig und -fähig ist. Vier Monate mit 12 Kilo Eigentum, inklusive Zelt, Isomatte und Schlafsack, also Haus und Schlafzimmer, sowie dem kompletten Kleiderschrank, lassen mich schon drüber nachdenken, wieviel ich den wirklich brauche. Dabei freue ich mich schon auch auf einen Satz Unterhosen, der für einen Monat langt und frage mich, ob das mit den 12 Kilo auf Dauer cool ist. Weil es natürlich so ist, daß nach vier Monaten Handwäsche und -ich glaube- drei Waschmaschinenbesuchen aber auch gar nichts mehr wirklich taufrisch riecht. Und die meisten Sachen sind auch durch. Die Wanderhose hat sich bei der letzten Wäsche schonmal sowas wie eine Laufmasche zugelegt. Da wäre es also tatsächlich so, daß ich auf den Mantelsonntag im September hinwirken würde, um was Neues zu bekommen. Und der Gedanke, ob wir mit wenig Klamotten und deren permanenten Nutzung nicht mehr kaputt machen, als der Chance, daß die Materialien sich erholen. Bestes Beispiel Schuhe. Da geht es ja nicht nur um die Sohle, aber die Schuhe, die ich seit St. Jean trage, lüften gar nicht mehr aus, was ihren Zerfall beschleunigt. Also denke ich, daß mindestens zwei paar Schuhe schon Sinn machen, für die Frauen mehr, aber keine 100. Basta. All das geht mir durch den Kopf und will geschüttelt, nicht gerührt werden. Es ist soviel, daß es halt noch nicht strukturiert ist.

Eigentlich wollte ich auch durchgehen, aber als eine Bar „Die zwei Deutschen“ heißt, gehe ich da aus landsmannschaftlicher Zugewandtheit mal rein. Von den beiden Deutschen war zwar nix zu sehen, aber die Pause war trotzdem ok. Wegen des Regens und dem Verband an der rechten Hand konnte ich nicht so konsequent mit den Stöcken arbeiten, wie in den letzten Monaten – wie sich das anhört, ist aber so-  was also mehr Kraft in den Beinen braucht. Und nach dreieinhalb Stunden erreiche ich Melida, unbestätigten Gerüchten zufolge die Stadt mit den besten Pulperias in Galicien.

Aber mein erster Weg geht ins Centro de Salud zum Verbandswechsel. Das Städtchen etwas größer, das Zentrum auch, die Bürokratie deshalb etwas mächtiger. Ich muß also warten, meinen Ausweis abgeben, der kopiert wird und im Hintergrund rechnet bestimmt ein blutjunger Controller aus, ob sich der Aufwand lohnt, den Verbandswechsel in Rechnung zu stellen. Ich habe Glück, es lohnt sich nicht und ich komme dran. Die nette Jungärztin guckt sich den Finger an und schlägt vor, daß ich mir den Verband doch selber wechseln soll und mich erst in einer Woche einem Arzt vorstelle, wenn nix schlimmer wird. Sie hätte den Eindruck, das sähe gut aus und entwickle sich auch anständig weiter. Ich sag ok, und frag nach einer Liste, was ich denn alles in der Farmacia kaufen soll. Sie schreibt mir nur die Salbe auf und stellt aus ihren Beständen die anderen Verbrauchsmaterialien zusammen. Ich sage, so habe ich das nicht gemeint und sie antwortet, das wäre schon ok. Ich bedanke mich vielmals. Das alles haben wir auf Englisch abgewickelt, weil die gute Frau, der Engel von Melide, irgendwo in USA studiert hat. Alles gut.

Dann ins Hotel und ab in den Speisesaal. Seit diesen Verbandswechseln habe ich mittags richtig Hunger. Es gibt grünen Bohnen mit Speck, Zwiebeln und den unvermeidbaren Paprika, sowie Brot. Noch n kaltes Wasser mit aufs Zimmer. Siesta. Von drei bis sechs einfach mal nicht busy, busy sein, sondern auf dem Bett liegen, Fernsehen gucken, Emails checken und was lesen. Das wird auch etwas sein, was als Routine schwer in meinen normalen Alltag zu übertragen sein wird, aber weiß? Wer will, daß die Menschen bis 67 buckeln, muß eben auch über Ruheräume und -zeiten nachdenken. Ich weiß allerdings nicht, ob der spanische Tagestakt, der sicherlich auch dem Wetter geschuldet ist, so mir nichts dir nichts nach Deitschland zu transferieren wäre. Obwohl ich ja hier in Galicien bin, es heute geregnet hat und es auch nicht so heiß war. Vielleicht geht doch was im Klimawandel, der auch Kulturwandel sein muß.

Abends ziehe ich dann los. Ein nettes Städtchen, das neben dem Vorteil die Hütte am Camino vollzukriegen auch Oberzentrum ist und ein wenig industriellen Besatz hat. Merkste sofort. Und das Bummeln macht auch mehr Spaß, als nur über Pilgers Flipflops zu stolpern. Ich lande in einer Bar, wie es in Galicien einige gibt. Die kriegen das Bier nicht in 50l Fässern, sondern direkt aus den großen Tanks der Brauerei unfiltriert in etwa 500l große Fässer gepumpt und von da aus frisch ins Glas. Die permanente Brauereibesichtigung. Schönes Konzept, schmackhaftes Bier, begleitet von einer weiteren, schönen Sitte in Galicia. Die Tapas werden nicht einzeln zum Getränk gereicht, sondern die Damen und Herren von hinter der Theke gehen mit Tabletts rum und reichen Häppchen. Also bist du pappsatt, bevor es ans Essen geht. Aber ich will ja noch Pulpo probieren und latsche Richtung Stadtausgang, wo ich heute schonmal an einer vorbei gelaufen bin, die mittags rappelvoll war. Ich checke dann da ein, bestelle meinen Pulpo und einen Vino blanco, der auch stilecht in der Keramiktasse serviert wird, wie der Cidre in der Bretagne. Kelten halt. Aber der Stoff ist so schlecht, daß ich ihn stehen lasse. Der Pulpo dagegen ist fein. Kein Gummi, Eigengeschmack und gut gewürzt. Alles gut. Mit Essen war es das also für heute. Das mit dem Wein geht gar nicht. Ich bin aber doch eben an einer Bar mit dem Motto „a boa vida – a boa vino“ vorbeigelaufen? Also hin da, dem Wirt mein Leid geklagt und einen guten Weißen aus Galicia eingefordert, den ich dann auch bekommen habe. Zufrieden gehe ich jetzt ins Bett. Morgen gibt es nochmal 33km auf die Füße… Ever forward.

103. Etappe: Portomarin – Palas de Rei

Heute stellt sich die Strecke von der Humanseite her deutlich entspannter dar, weil es einfach nicht so voll ist, was einfach daran liegt, daß alle 100KilometlerInnen zwar zusammen loslaufen, aber nicht gleich weit kommen. So streut sich das schon nach der ersten Etappe und meine Laune ist bestens. Vor allem auch, weil ich ausgesprochen gut gefrühstückt habe. Jogurt, Obst und frisches Brot ist an Spaniens Frühstückstischen nämlich eine echte Seltenheit. Daß es dazu Cafe con Leche und frischgepressten Orangensaft satt gab, brauche ich nicht zu erwähnen, oder? Das wird dann in Deutschland -Klimawandel hin oder her- etwas schwieriger, aber irgendwie hab ich mich dran gewöhnt.

Es geht also weiter durch das galicische Hügelland. Sanfte Auf und Abs, Blicke von sonnenbeschienenen Gipfeln, wenn das Oben bei Hügeln auch so genannt wird, in nebelverhangene Täler, zwischendurch kleine Weiler, deren Betriebsführung für jemanden aus dem Land der industriellen Massentierhaltung so aus der Zeit gefallen scheint, daß es sich nur als touristische Attraktion lohnt, aber die Leute leben anscheinend davon. Vielleicht ist es aber auch nur der Bauernverband und die Fleisch-, Gemüse- und sonstwas Industrie, die das Märchen von der Rentabilität ab einer Betriebsgröße Richtung Megastall erzählt. Meine Eindrücke in Frankreich und Spanien sind andere und das werde ich im Auge behalten, wenn ich wieder daheim bin.

Das ist so ein Ding. Der Kradvagabund Panni hatte mich als erfahrener Weltenbummler auf das Dilemma am Ende einer Reise hingewiesen. Du willst die letzten Tage genießen, aber denkst schon an zu Hause. Nun habe ich das Glück, daß meine Wanderung zu Ende geht, nicht aber meine Reise. Trotzdem verstehe ich, was er meint. Je näher Santiago kommt, desto mehr merke ich, wie schwer das Ankommen fällt. Kleinere Etappen. Viele Pausen. Und auf der anderen plane ich meinen Asturienaufenthalt und freu mich auf die Tage im Baskenland mit meiner Liebsten und stelle mir vor, wie beides wohl wird. Das kennen aber bestimmt auch viele aus Kurzurlauben. Verlängertes Wochenende und genau an dem Zusatztag springt die Hirse schon wieder fürs Geschäft an, wie der Schwabe sagen würde. Naja, ich gebe mir Mühe, das alles zu genießen und Galicia ist wie geschaffen dafür.

Gegen Mittag etwa zwingt mich das Dilemma in eine Casa blabla, liegt an einem Hügel am Weg, hat einen Biergarten unter mittelalten Bäumen aufgebaut und ist gut gefüllt, aber eben nicht rappelvoll. An der Theke rieche in die Küche und das riecht gut. Ergebnis ist, daß ich mit einem Bocadillo con Tortilla y Chorizo und einem Bier im Garten hock und den Leuten zugucken kann. Und dieses Bocadillo, belegt mit einem Omelett und einer galizischen Chorizo ist der Hammer. Ein gutes Brot. Eier, wo du beim Legen dabei gewesen bist. Eine galicische Chorizo, die nicht nur Geschmacksträger, sonder eben auch Wurst ist. Herrlich.

Dann geht das noch ein wenig weiter und das Ziel ist erreicht. Mittlerweile hat sich dabei eine neue Routine ergeben. Im örtlichen Centro de Salud vorsprechen und nach einem neuen Verband fragen. Das ist hier in Palas de Rei echt vorbildlich. Ich spreche vor, sag mein Sprüchlein auf und werde schwupps von einer jungen Ärztin abgepasst. Zurückgepfiffen werden wir beide von den Damen am Empfang. Peregrino? Si/No. Passaporte? Si, claro. Erst nachdem das geklärt ist, kriege ich meinen neuen Verband, der als dritter Verband in drei Tagen, wieder ganz anders aussieht, als die anderen Zwei. Egal, auch die Ärztin hat keine Bedenken mich weiterlaufen zu lassen.

Danach beziehe ich meine Unterkunft und gehe sofort wieder los, weil ich mich für die Siesta mit kalten Wasser und ner Cola rüsten will. Als ich verschwitzt über das Resto das Haus verlassen will, sehe ich, wie einer alten Frau eine Linsensuppe gebracht wird. Ich rieche das Linsige, aber auch Knoblauch und Piementos und weil nichts so alt ist, wie die Idee von eben, hocke ich im Resto und esse eine Linsensuppe bei 25Grad, die was von Sommer und Süden hat. Großartig. Ich kauf mir noch ne Flasche Wasser an der Theke, gehe hoch und bin um.

Gegen Sechs guck ich mir mal das Örtchen an und finde trotz eines ja großkotzigen Namens eine schützenswerte Pilgerbutze, weil die hier anscheinend seit 500 Jahren nur Leute beherbergen und verpflegen. Auch gut, aber langweilig. Außer du hast einen guten Platz in einer schattigen Bar und kannst weitere Feldforschung zum Thema „Wer pilgert denn da alles rum?“ betreiben. Den Platz hatte ich und meinen Spaß hatte ich auch. Die Forschungsergebnisse: Ich habe Joy Fleming auf dem Camino gesehen, mittags völlig durch die Hecke und sich nur noch millimeterweise bewegend, abends mit Stirnband die Mähne bändigend, geschminkt und ganz in Schwarz, aber in schillernden Flipflops mit Absatz, wie auch sonst. Das war nicht wirklich Joy Fleming, aber genau dieser schillernde Typ. Daneben aber eben auch der Typ Frau mit immer schlechter Laune. In den 50 Jahren Leben viel gelernt, auch deshalb schlechte Laune und sie will jetzt n Tee, genau wie daheim. Natürlich bandagiert, aber das Ding wird durchgezogen und am kommenden Montag wieder mit schlechter Laune Sozialarbeit gemacht oder in der Druckerei geschafft oder ist auch egal. Hauptsache Berlin oder Hamburg. Die Typen sind langweiliger, weil eh alle Helden. Aber es gibt welche, die -ich rede jetzt mal von Typen in meinem Alter- zeigen müssen, wie fit sie immer noch sind (Typ 1, viele Radfahrer und die Wanderer eher ohne Sonnenhut, eher mit Bandana.) oder die Combo (Typ 2, eher zu Fuß unterwegs, zusammen mit Kumpels), die zeigen wollen, daß, sie immer noch rebel sind, wozu in dem meisten Fällen ein nerdiges T-Shirt herhalten muß, was der internetaffine Organisator der Veranstaltung gleich für alle bestellt hat, natürlich in der Funktionsshirt-Ausführung. Der Typ, der heute auf dem Weg mit einem ausgewaschenen Ramones-TShirt unterwegs war und sich über mein GabbaGabbaHeyHey sichtlich freute – wir ballten auf jeden Fall beide mal die Faust und rissen sie nach oben – war da echt eine erwähnenswerte Ausnahme. Die jungen Leute laufen außer Konkurrenz. Das ist Sommer, Urlaub. Irgendwie wie Interrail zu Fuß und das sei Ihnen gegönnt. Obwohl ich auch da das Gefühl habe, daß Deppentum sich schon in frühen Jahren zeigt.

Sei es drum. Ich hocke jetzt wieder im Comidor der Unterkunft, habe hervorragende Hausmannskost serviert bekommen. Wieder eine Suppe, diesmal eine Möhrensuppe mit Lauch, Zwiebeln, Kartoffeln und Kräutern, die der Süße der Möhren einen Kontrapunkt setzten und ein großartiges Kotelett mit Patatas. Danach und das war für mich eine Premiere, als Nachtisch einen Obstteller. Und so hatte ich Gelegenheit den Albariño -der halbe Liter, der das Menü begleitete- mal mit Obst zu probieren. Habe ich noch mit keinem Wein gemacht. Vielleicht ist das doof, weil das hier Spaß gemacht hat. Banane, Nektarine und Orange mit einem Weißwein zu untermalen. Interessant, wobei das Herbe der Bananas de Canaria, am besten harmonierte.

Jetzt sitz ich immer noch hier und während ich schreibe findet sich die Wirtsfamilie zum Abendessen zusammen. Das ist schön, wie die Generationen da um den Tisch hocken, den Tag nachbereiten, sich um die  ganz Kleinen kümmern und das Essen genießen. Dabei läuft natürlich die ganze Zeit der Fernseher. Es ist also nicht die heilige Familie, sondern ein Haufen Leute, die von diesem Haus und einem Weinberg leben. Das mit dem Weinberg hab ich eben mitbekommen, weil da plötzlich ein Glas Tinto vor mir stand. Ein Geschenk des Hauses. Ja, dann trink ich das jetzt mal ganz gemütlich und starre auf den Fernseher…