Die Zukunft der Arbeit und die Konsequenzen für die berufliche Bildung

Der Artikel ist zunächst hier erschienen:
https://www.zeitschrift-berufsbildung.de/archiv/bildungspersonal-in-der-coronakrise-update

Die Pandemie hat wie im Brennglas gezeigt, dass das Einzige was an der Zukunft von Arbeit sicher ist, die schlichte Tatsache ist, dass sie getan werden soll! Aber über welche Arbeit reden wir überhaupt? Sind es die Kurierfahrer*innen oder die Influencer*innen? Sind es die Kolleg*innen im Homeoffice oder die an den Fließbändern und in den Werkstätten? Sind es die Krankenpfleger*innen oder die Qualitätsmanager*innen in der Altenpflege? In der Pandemie wurde alles erledigt und ist doch anders geworden. Die einen wurden beklatscht, die anderen haben Arbeit und Leben integrieren gelernt und die anderen haben weiter Autos produziert, wenn sie nicht in Kurzarbeit waren.

Im Folgenden soll der Frage nach der Zukunft von Arbeit nachgespürt werden, indem Unterschiede und Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Tätigkeiten genauso betrachtet werden, wie die allgemeinen Trends die das Bild von Arbeit in den nächsten Jahren prägen werden. Schlussendlich soll das in Überlegungen zu den Konsequenzen für Struktur und Inhalt beruflicher Bildung münden.

Die Perspektiven zukünftigen Arbeitens werden zentral durch alle Facetten der digitalen Transformation geprägt. Das bedeutet auf der einen Seite, dass alle Arbeiten nun eine technische Dimension haben, die die professionelle Nutzung von Hard- und Software meint, was neben der eigentlichen Nutzung oftmals auch Wartung und Reparatur umfasst. Auf der anderen Seite werden kommunikative Fragen und die Herausforderungen digitaler Identität und Sozialbeziehungen immer wichtiger. Schlussendlich kommt, gerade auch in industriellen Großorganisationen ein steigendes Maß an standardisierter Berichterstattung, also schlichte Verwaltungsarbeit, hinzu.

So entsteht eine Landkarte digitaler Kompetenzen, die drei unterschiedlichen Logiken folgt; nämlich einer technischen, einer administrativen und einer sozialen Logik, die allesamt die digitale Gesamtkompetenz abbilden, wobei

  • die technische Logik die handwerkliche Beherrschung von Hard- und Software bedeutet;
  • administrative Logik die professionelle Verwaltung von Daten und Dateien meint und
  • soziale Logik die Fragen der digitalisierten Interaktion umfasst.

Ergänzt werden diese Themen noch durch die individuellen Herausforderungen, die die neuen Formen raum- und zeitunabhängigen Arbeitens mit sich bringen.

Wie sieht also ein ganz normaler Arbeitstag, für wen auch immer, aus? Ein typischer Vormittag könnte so aussehen:

Nachdem die Mails gecheckt sind, die über Nacht reingekommen sind, soll eigentlich der regelmäßige Früh-Call als erste Regelkommunikationsschleife des Tages stattfinden, der aber leider recht rüde durch ein nicht zu stoppendes Update der VR-Brille unterbrochen wird. Danach funktioniert der VPS-Client nicht mehr. So ist der Umstieg aufs Smartphone zwingend und der Früh-Call ist zwar fast vorbei, aber die lieben Kolleg*innen zeigen Verständnis. Die IT schickt eine Mail mit kryptischen Anweisungen, aber mit dem guten alten Tool, mal alles vom Strom zu nehmen, wird alles wieder gut. Allerdings fragt die IT, wegen ihres Qualitätsmanagements, nun automatisiert nach, ob den alles zur Zufriedenheit läuft. Das Formular will ausgefüllt sein, bevor der nächste Videocall ansteht oder ob eines Präsenztermins in die Firma gewechselt werden muss….

An diesem durchaus typischen, wenn auch verdichteten, Vormittag eines Büromenschen, zeigt sich, wie sich die drei Logiken operativ auf den Alltag auswirken. So wollen Tätigkeiten aus allen drei Bereichen erledigt werden, und das teilweise automatisiert, so dass sich die Frage nach Priorisierung und Autonomie nicht stellt. Die kommunikative Seite dient zur Kompensation technischer und administrativer Defizite und wird so für Karriere und kollegiale Zusammenarbeit noch wichtiger, als sie in vordigitalen Zeiten eh schon war.

Zusammenfassend werden sich also Berufsbilder der Zukunft zunehmend aus Elementen der drei genannten Logiken zusammensetzen, die dabei im Gegensatz zu heute fast gleichwertig Nebeneinander stehen. Damit sind also die beruflichen Perspektiven für Beschäftigte, deren Begabung stark auf eine Logik fokussiert ist, in Zukunft limitiert. Auch die Entscheidung für einen technischen, kaufmännischen oder erzieherischen Beruf wird wohl nicht mehr so eindeutig zu treffen sein.

Das klingt auf der einen Seite sicherlich bedrohlich, aber es bietet neue Bilder beruflicher Tätigkeit, die vor dem Hintergrund der digitalen Transformation bereits im Entstehen sind. So finden sich in hochautomatisierten Fertigungen, mehr und mehr Runden zusammen, wo die Notwendigkeit vorausschauender Instandhaltung, die logistischen Bedarfe und die Produktionsplanung immer wieder aufs Neue austariert werden müssen, damit jede Fachabteilung im Sinne eines unternehmerischen Gesamtoptimums zu ihrem Recht kommt. Und dazu brauchen die Mechatroniker*innen, Logistiker*innen und Arbeitsvorbereiter*innen eben nicht nur ihre technischen Kompetenzen, sondern in einem hohen Maß kommunikative und planerische Kompetenzen und eben auch die administrative Kompetenz diese Planungen auch systemseitig abzulegen und einzupflegen. Derlei interdisziplinäre Abstimmungen und Projekte finden sich im modernen Industriebetrieb reichlich und nur allzu oft scheitern diese Projekte eben an der Dominanz einer Logik, sei es die technische Seite oder eben die logistische Perspektive.

Was heißt all das für die Zukunft der beruflichen Bildung?

Berufe folgen in der Regel der weiter oben vorgestellten Logik und sind deshalb in der Regel entweder technisch-handwerklicher, kaufmännischer oder pflegerisch-erzieherischer Natur. Von daher ist auch die Ausbildung stark auf die Vermittlung von Kenntnissen fokussiert, die diesen Logiken folgen. Die vorstehende Darstellung hat aber aufgezeigt, dass sich diese Fokussierung abschwächen muss und eine eher ganzheitliche Ausbildung erfolgen muss, wenn sie den arbeitsadäquat sein soll.

Das heißt für die technischen Berufe, dass neben den berufsinhaltlichen Kompetenzen wie die Metall- oder Elektrotechnik, zunächst auch die digitalen Kompetenzen für die Beherrschung von Laptop und Smartphone im Hier und Jetzt und das Bewegen in Augmented und Virtual Realities im Jetzt und Dann vermittelt werden müssen, bevor es auch, stärker als bisher, um die Fragen administrativer und kaufmännischer (beispielsweise bei der Handwerkerin im Verkaufsgespräch und der Kundenberatung) Kompetenz und um die kommunikativ-kreativen Kompetenzen etwa bei der Koordination von Baustellen gehen muss.

Das bedeutet für die administrativen Berufe einen höheren Ausbildungsanteil in Sachen digitaler Technologien und Beherrschung von Hard- und Software, inkl. Wartung und Reparatur einerseits und andererseits verstärkt Elemente von Projektmanagement und interdisziplinär abgestimmter Arbeit. Ähnliches gilt für
die erzieherischen Berufe.      

Ein weiterer Aspekt, der bislang noch nicht zur Sprache gekommen ist, ist die in der Digitalisierung steigende Bedeutung der Schriftsprache. Von Email und SMS bis whatsapp und den Chatfunktionen bei Teams, Zoom etc. wird mehr geschrieben, auch wenn es sich oftmals um geschriebene Sprechsprache handelt. Das allerdings führt nicht allzu selten zu Missverständnissen, die im betrieblichen Umfeld sogar Schaden anrichten (Stichwort: Satzzeichen retten Leben!). Ob das durch die Zunahme von Videokonferenzen und Videochats beheben lässt, ist solange offen, wie in vielen Fällen die Kamera ja ausbleibt!

Abschließend soll noch ein Thema angesprochen werden, dass die Unterscheidung von allgemeiner und beruflicher Bildung trifft. Es ergibt sich aus der steigenden Bedeutung von Kommunikation, Kreativität und Teamspirit. Um hier effizient zu arbeiten und gute Ergebnisse zu erzielen, kann es nicht nur um streng fachliche Inhalte gehen, sondern eben auch um Konversation und Small Talk. Und selbst der hat seine Voraussetzungen in einer gewissen Allgemeinbildung bzw. kultureller Bildung. Dabei geht es nicht um die Fokussierung auf Aspekte der Hochkultur, sondern um einen breiten Wissensbestand, der situations- und adressatengerecht abgerufen werden kann.          

Die berufliche Bildung der Zukunft wird also vier Säulen haben müssen. Da wäre

  1. die Technik
    Hier geht es einerseits für Alle um die technischen Kompetenzen die benötigt werden, um Hard- und Software professionell zu nutzen, sowie zu warten und ggfls. zu reparieren. Andererseits bedarf es in den technischen Berufen selbstredend einer fachlich fundierten Ausbildung an den Maschinen und Werkzeugen, sie den dahinterliegenden physikalisch-technischen Grundlagen.
  2. Die Administration / Das Kaufmännische
    Hier geht es einerseits um die Grundlagen des Projektmanagements und etwa bei handwerklichen Berufen um kaufmännische Grundlagen von Vertrieb und Buchhaltung. Andererseits sind natürlich auch hier bei den kaufmännischen Berufen die fachlichen Grundlagen zu legen.
  3. Das Soziale
    Hier geht es einerseits um die notwendigen Kompetenzen für professionelle aber empathische Kommunikation in Schrift und Wort, sowie den Grundlagen von Zusammenarbeit und Kollegialität. Die erzieherischen und pflegenden Berufe benötigen selbstredend darüber hinaus auch die entsprechenden fachlichen Grundlagen.
  4. Allgemeinbildung
    Hier geht es für alle um den kompetenten Umgang mit social media einerseits und das Lernen und Kennenlernen von Inhalt und Form guter Konversation in der analogen wie digitalen Welt. Darüber hinaus wäre in diesem Zusammenhang auch Demokratie und demokratische Tugenden ein Lernfeld.

Zusammenfassend wird sich die Berufswelt wohl stärker diversifizieren und von allem ein wenig gebraucht werden, auch wenn die Fokussierungen in bestimmten Berufen recht ähnlich bleiben. Hier gilt es vorsichtig zu sein, einfach weitere Kompetenzanforderungen oben auf zu packen, sondern den richtigen Mix zu gestalten. Und das wäre die fordernde Aufgabe für die berufliche Bildungsplanung der kommenden Jahre!


Klaus Mertens
Oktober 2021

Literatur:

Gottschall, K.; Voß, G. (2003), Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag, Mering

Oesch, D. (2013), Occupational Change in Europe. How Technology and Education transform the Job Structure, Oxford

Raphael, L. (2021), Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin

Reckwitz, A. (2017), Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin

Vester, M.; Weber-Menges, S. (2014), Zunehmende Kompetenz – wachsende Unsicherheit. Bericht zu dem von der Hans Böckler Stiftung geförderten Kurzprojekt Explorative Entwicklung und Erprobung eines Untersuchungsinstruments für integrierte und differenzierte Langfrist-Analysen der beruflichen Arbeitsteilung und der Prekarisierung der Erwerbsstruktur in der BRD 1991-2009 mit den Daten des Mikrozensus, Hannover

https://www.arbeit-corona.uni-osnabrueck.de/ (zuletzt besucht am 03.11.2021)

https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Themen/Klassen_und_Sozialstruktur/Vester_Michael_Berufsgliederung_BRD_S_GB_2000.pdf (zuletzt besucht am 03.11.2021)

Bildet Banden!

Dieser Text, den ich letztes Jahr geschrieben habe, ist mir beim Aufräumen in die Hände gefallen. Und weil er leider nichts von seiner Aktualität verloren hat, gibts den halt heute:

Ich hatte neulich die Gelegenheit einer Lesung von Sven Gringmuth zu folgen, der seine Dissertation vorgestellt hat. Bei der Arbeit geht es um den Übergang vom Summer of Love 1968 in die scheinbar widersprüchliche Zeit der K-Gruppen. Gringmuth denkt laut und anschaulich darüber nach, ob und welche, manchmal auch nur scheinbaren, Brüche es in dieser Chronologie der Bewegung, aber eben auch in den Biografien einzelner Akteure gegeben hat. Im Kern liest er das aber auch als die quasi zwangsläufige Hinwendung sozialer Bewegungen zur Frage von Kapital und Arbeit, als dem zentralen systemprägenden Faktor, und die Solidarität mit denen, die auf der Seite der Arbeit in diesen Kämpfen stehen. Im Nachgang dazu ist mir die aktuelle Lage vor dem Hintergrund dieser historischen Blaupause nochmal durch den Kopf gegangen.
Wir stehen aktuell in der Metall- und Elektroindustrie vor einer der schwersten Tarifaus-einandersetzungen der letzten Jahre und die Beteiligung der Kolleg*innen ist nicht nur deshalb hoch, weil Sie mehr Geld wollen, sondern auch weil es ein Ringen um Anerkennung ihrer Leistung ist. In der öffentlichen Diskussion dominiert die Diskussion ums Homeoffice, new work und Agilität, die die Kolleg*innen an den Fließbändern und in den Werkstätten außen vor lässt. Die Industriearbeiter*in kommt im öffentlichen Diskurs nicht mehr vor und viele Szenarien, die im Zuge des Klimawandels und seiner Eingrenzung entwickelt werden, sehen Industrie und die mit ihr verbundenen Arbeit als abzuschaffendes Übel.
Der Protest gegen das politische Nichtstun in Sachen Klimawandel hat mit Fridays for Future massenhaft Menschen auf die Straße getrieben und das Thema endlich auf die politische Agenda gesetzt. Diese Bewegung stellt nun zunehmend nicht mehr nur die Frage nach der Bekämpfung des Klimawandels, sondern auch nach den systemischen Rahmenbedingungen und hat sich theoretisch über Postwachstumsdebatten und Degrowth der Kategorie der Kapitalismuskritik eher vorsichtig genähert Unter dem Slogan „system change not climate change“ ist sie nun, zumindest in Teilen dort angekommen.
In der IG Metall wird die Frage sozial-ökologischer Transformation und einer ganzheitlichen klimafreundlichen Politik durchaus gesehen und auch bearbeitet, wie die große Demonstration in Berlin, die unter dem Motto „fairwandeln“ stand, schon 2019 gezeigt hat. Aber sie hat ihre natürlichen Grenzen an den Komfortzonen der Kolleg*innen vor Ort und findet mit großer Ernsthaftigkeit eher auf den überregionalen Ebenen statt.
Die Herausforderung einer politischen Linken würde nun darin bestehen für die Begegnung von Klimabewegung und Gewerkschaft zu sorgen, und zwar vor Ort, ganz operativ und maßnahmenorientiert, nicht in überregionalen Arbeitskreisen und Bündnistreffen, die auch ihre Berechtigung haben, aber – ich denke – dass es an der Zeit ist, diesen Punkt stark zu machen: Es gilt einerseits, soziale und die ökologische Frage zusammen zu denken, und die soziale Frage dabei als Frage von Arbeit und Beschäftigung zu sehen. Andererseits gilt es, operative Formen der Kooperation in den Regionen zu entwickeln, die beim Transformieren anpacken wollen. Das ist bislang leider nur selten zu sehen. Ursächlich dafür ist die kulturelle und soziale Unterschiedlichkeit von Klima- und Gewerkschaftsbewegung, was sicherlich längst nicht mehr so holzschnittartig wie in den 68ern funktioniert, aber trotzdem hat jede Blase ihr Dispositiv und ihre Narrative.
Wer ist nun gefragt? Es sind die „organischen Intellektuelle“, wie Gramsci das nennt, die in Gewerkschaft, wie Klimabewegung eingebettet sind und ob ihrer Intellektualität in der Lage sein sollten Dispositive und Narrative zu lesen und zu diskutieren, dadurch auch aufzuweichen und so als Synthesen etwas Neues entstehen zu lassen. Dafür müssen wir weder Parteien gründen, noch den Habitus eines Arbeiters aus den 20Jahren imitieren oder mit Schmerbauch auf irgendwelche Bäume krabbeln. Authentisch und auf Augenhöhe ins Miteinander zu kommen und da ist eine Voraussetzung tatsächlich das gegenseitige Verstehen. Das wäre der Riesenunterschied zu der historischen Formation der End60er/Anfang70er Jahre: es wäre ein emanzipatorisches Projekt und nicht die autoritären Befreiungsphantasie für eine imaginierte Arbeiter*innenklasse.

2020 – stade Zeit – 2021

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
geschätzte Mitstreiterinnen und Mitstreiter
und Freundinnen und Freunde,

2020… Brauchts da wirklich neben dem Lockdown auch noch eine stade Zeit?

Hat nicht der Virus das ganze Land gelähmt, zur Ruhe verdammt oder auch
zur Entschleunigung gezwungen? Ist das nicht genug?

Nein, ein ganz entschiedenes Nein!

Viele haben in diesem Jahr viel und hart gearbeitet. In den Kliniken und Ambulanzen,
im Einzelhandel und als Paketfahrer*in oder in Fertigungen und Montagen oder
im Homeoffice, im Homeschooling und bei der ganz alltäglichen CARE-Arbeit.

Und da braucht es nun eine stade Zeit um Kraft zu schöpfen und Ruhe zu finden.

Dieses Jahr der Pandemie kann auch als Katalysator anstehender Transformationen
gelesen werden. Die neue Selbstverständlichkeit von Homeoffice und Videokonferenzen ist dafür genauso Hinweis wie das Konjunkturprogramm oder die PopUp-Radwege in den Städten. Die Weichen stehen endlich auf Veränderung. Der Zug ist angerollt, wenn auch für den ein oder die andere zu langsam.

Das Jahr so zu nutzen hat viele Akteure in Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft vor
große Herausforderungen gestellt. Etablierte Kommunikationen wie Tagung, Workshop
oder Konferenz waren unmöglich gemacht und liebgewonnene Rituale von Protest und
Widerstand obsolet. So ist nicht nur inhaltlich viel gearbeitet worden, sondern auch viel
Kreativität in neue Formen politischer und zivilgesellschaftlicher Arbeit geflossen.

Auch da braucht es nun eine stade Zeit um Kraft zu schöpfen und Ruhe zu finden.

Das Jahr hat mich gelehrt hoffnungsvoll und fröhlich zu bleiben. Die Pandemie hat
einen Schub an Veränderung gebracht und die Menschen haben gezeigt, dass sie
nicht pauschal gegen Veränderung sind. Sie wollen sie nur verstehen und im besten
Fall beteiligt sein. Dabei geht es nicht immer nur um Inhalte, sondern auch um Emotion.
Deshalb wird es auch weiterhin darum gehen, das Narrativ vom klimagerechten guten
Leben zu entwickeln und zu erzählen, was sicherlich nicht leichter werden wird.

Nun bricht auch für mich die stade Zeit an, um Kraft zu schöpfen und Ruhe zu finden.

Ich wünsche deshalb allen, die kommenden Tage nutzen zu können, um ein
wenig Kraft zu tanken für die Herausforderungen des kommenden Jahres.
Denn eins ist gewiss: Es geht weiter!

Viele Grüße

Klaus Mertens

Mehr als Netflix und Homeoffice? – Beobachtungen zur digitalen Transformation in der Pandemie –

Vorbemerkungen

Die digitale Transformation hat in der Pandemie einen Riesenschub erhalten, heißt es allerorten. Bei näherem Hinsehen kann das aber darauf eingedampft werden, dass es auf der einen Seite ein Mehr an Homeoffice bzw. mobilem Arbeiten gibt. Auf der anderen Seite weitet sich die Nutzung von Online Shopping bis zu Streaming-Diensten zur digitalen Zerstreuung weiter aus.

Dieser Beitrag will die Veränderungen der Arbeitswelt, die sich durch die Ausweitung der mobilen Arbeit ergeben haben, näher beleuchten, denn es ist davon auszugehen und wird ja schon allerorten konstatiert: Dieses Rad wird sich nicht mehr zurückdrehen lassen, eher noch weiter an Raum gewinnen.

Dafür sprechen viele gute Argumente, die alle auch eine Tönung in Richtung sozial-ökologischer Transformation haben.

  • So geht es um die Ressourceneffizienz eingesparter Wege zum Arbeitsplatz, die den CO2-Ausstoß genauso reduzieren, wie den Verbrauch fossiler Energieträger. Dass die Städte durch weniger Berufsverkehr attraktiver werden, liegt auf der Hand.
  • Die angenehmere Arbeitsumgebung daheim, in der sich viele Aufgaben fokussierter erledigen lassen, ist ein weiteres Argument für das mobile Arbeiten, das ja vielfach auch mit gelockerter Etikette einhergeht. Allerdings taucht hier eine Dimension sozialer Ungleichheit auf, die bei der Bewertung des Option zum Homeoffice berücksichtigt werden muss. Es macht nun mal einen Riesenunterschied, ob jemand als alleinerziehende Mutter in einer EinRaumWohnung lebe und arbeite oder als Eigenheimbesitzerin in einem eigens eingerichteten Arbeitszimmer tätig werden kann. Interessant wird dabei sein, zu untersuchen, ob trotz widriger Bedingungen das Home Office / Mobile Arbeiten hochgeschätzt bleibt oder nur eine zweckvolle Option ist. Da gibt es wohl noch keine empirischen Befunde.
  • Die individuellere Gestaltung der Arbeitszeit und die bessere Integration von privatem Tun, inkl. CARE-Arbeit wird von vielen Mobil-Arbeitenden als weiterer positiver Moment empfunden. Dem gegenüber steht seit vielen Jahren eine Debatte um die Entgrenzungen von Privat- und Arbeitsleben, die das eher kritisch sieht. Aber vielleicht wird sich der Diskurs auch dahin verschieben, dass es mehr um die Reintegration der Lebensbereiche und die Spielregeln dafür geht, als wie bisher um die scharfe Grenzziehung zwischen entfremdeter Lohnarbeit und dem Privaten.

Neben diesen eher operativen Aspekten der pandemiebeschleunigten Veränderungen der Arbeitswelt, gibt es auch Beobachtungen auf einer Metaebene, die darüber hinausweisen, aber eben auch auf Arbeit wirken.

  • Während landläufig die analoge Identität als überaus authentisch galt, ist die digitale Identität, die sich etwa auf Facebook oder Instagram zeigt, immer dem Vorwurf der Inszenierung ausgesetzt. Aber in den letzten Monaten haben sich die Menschen beruflich zusammen gezoomt oder geskypt. Viele haben dabei ihre Kolleg*innen im heimischen Umfeld, womöglich in Jogginghose und im T-Shirt einer angeranzten Heavy Metal-Band statt im grauen Zweireiher oder im blauen Twinset wahrgenommen. Damit ist, bislang wenig reflektiert, die Integration von analoger und digitaler Identität vorangekommen, weil die Fragen von Authentizität und Inszenierung keine Frage von analog/digital mehr sein kann, sondern eine Frage sozialer Normen.
    Inwieweit der, gelegentlich sogar tiefe, Einblick in die privaten Settings der Kolleg*innen zu mehr Teamspirit und persönlicher Nähe führt, die wiederum motivierend und effizienzsteigernd wirken können, bleibt dabei noch offen.
  • Zeit- und raumunabhängige Kooperation mittels digitaler Medien verändern die Notwendigkeit von räumlicher Mobilität, kurz: Es ist nicht länger nötig auch nur einen Kilometer zu fahren, um einen Termin wahrzunehmen. Damit verliert räumliche Mobilität eine ihrer zentralen Funktionen: die Option auf Teilhabe. Wer auf dem Land groß geworden ist, weiß bestimmt um das Freiheitsversprechen dieser Option. Diese Teilhabe lässt sich nun, wenn auch mit evtl. Verlusten in der ein oder anderen Dimension, virtuell herstellen. Und so sind auch Freiheiten nicht länger an räumliche Veränderung gebunden, wie sie etwa in dem stehenden Wort von der Stadtluft, die frei macht, deutlich wird.
    Hinzu kommt die Möglichkeit an Veranstaltungen teilzunehmen, ohne Zeiten für Wege und Übernachtung in Kauf nehmen zu müssen. Die Möglichkeiten politischer Teilhabe und zivilem Engagement oder schlicht einer Weiterbildung sind deutlich größer geworden und so leben wir in einer Zeit großer geistiger Mobilität bei gleichzeitig räumlicher Immobilität. Es wird spannend sein, dies weiter im Blick zu behalten.
  • Die Videokonferenz mit gleichzeitig genutzter Chatfunktion ist die Königsdisziplin digitaler Kommunikation, die im Videokanal das fokussierte Gespräch führt und den öffentlichen Chatkanal als Sidekick für Ergänzungen, Fragen und Nebenbemerkungen nutzt, die dann oftmals
    von eine*r Moderator*in sortiert wieder in den Videokanal eingepflegt werden. Lästereien und sonstiges werden in privaten Chats unter vier Augen gepflegt.
    Diese Dualität von schriftlichen und gesprochenen Nachrichten ist anspruchsvoll und dadurch durchaus erschöpfend. Die Schriftsprache scheint dabei insgesamt über Chats, Tweeds oder die gute, alte E-Mail noch an Bedeutung zu gewinnen (wenn auch unter zunehmend fahrlässigem Umgang mit Rechtschreibung und Grammatik), aber der ebenfalls steigende Anteil von gesprochenen Nachrichten wie z.B. voice-Mails weist auf eine andere Entwicklung hin. Hier wird interessant, ob es sich um funktionsdifferenzierte Kommunikation handelt oder eine Frage sozialer Distinktion ist.

Betriebliche Handlungsfelder

Für die Arbeit betrieblicher Interessensvertretungen, genauso wie für HRler*innen, die sich als strategische Partner verstehen, entsteht Diskussions- und Handlungsbedarf in den zentralen Feldern von Arbeitszeit, Entgelt, Arbeitsgestaltung und Health Care, die nun nachstehend dargestellt werden sollen.

  • Arbeitszeiten
    Im Home-Office gibt es keine Stechuhren, weshalb sich entweder die Frage einer Arbeitszeiterfassung neu stellt oder die Zeiterfassung schlicht in Frage gestellt werden muss. Das Paradox bei Anwesenheit im Betrieb stechen zu müssen und im Home Office das Vertrauen des Unternehmens zu genießen, ist nicht unendlich lange durchzuhalten und sollte aufgelöst werden, wobei selbstredend auch das Urteil des EuGH zur Zeiterfassung Berücksichtigung finden muss.Nun ist es an der Zeit, sich vor Augen zu führen, dass nur etwa ein Viertel aller Beschäftigten im Homeoffice oder mobil arbeiten kann. Trotzdem ist das Thema als das Highlight digitalen Arbeitens in aller Munde und wird als Ursprung neuen Zeitwohlstands und der Vereinbarkeit von Privatheit und Beruf gefeiert. Davon sind aber dreiviertel aller Beschäftigten ausgeschlossen, was eine neue Dimension sozialer Ungleichheit eröffnet, die auch vor dem Hintergrund von Wertewandel und Individualisierung durchaus Sprengstoff hat, weil das Homeoffice als Gelegenheit wahrgenommen wird individuelle Bedürfnisse und Lohnarbeitsanforderungen zu integrieren, während sie für viele Beschäftigtengruppen strikt getrennt bleiben werden. Das ist selbstredend nicht für Jeden oder Jede schlimm, denn nicht alle wollen im Homeoffice arbeiten. Es gibt durchaus einen Anteil von Beschäftigten, die gerne wegen der sozialen Kontakte zur Arbeit gehen wollen, so wie die Meisten ja nicht unbedingt wegen des Lernens in die Schule gegangen sind.Scheinbar harmloser kommt in dem Zusammenhang die Frage daher, wie denn in Zukunft Personal für Berufe gewonnen werden sollen, die offensichtlich keine Perspektive bieten jemals im Homeoffice zu arbeiten. Die Frage hat aber durchaus existentielle Bedeutung, wenn an die vielen Schilder im Einzelhandel gedacht wird, die die Schließung aus Personalmangel verkünden. Das liegt ja vielleicht nicht nur an der bescheidenen Lohnhöhe, sondern auch am mangelnden Zeitwohlstand der Beschäftigten und vor allem wohl am Arbeitsklima.
  • Entlohnung
    Wenn sich Arbeitszeiten verändern, wenn Sie sich ausdifferenzieren oder irgendwo integriert werden, geraten ganz sicherlich auch zeitbasierte Entlohnungssysteme, insbesondere aber der Stundenlohn, unter Druck.
    Die eh angebrachte Kritik, dass sich kommunikative, kreative oder konzeptionelle Tätigkeiten schlecht in einem engen Zeitkorsett, aber eben auch schlecht in einem zeitbasierten Entlohnungssystem abbilden lassen, verstärkt diesen Druck zusätzlich.
    Wo wird sich also die Thematik hin entwickeln? Werden sich die Belegschaften von Lohnabhängigen zu Gehaltsempfängern entwickeln und wie werden diese Gehälter definiert?Das ist eine große Herausforderung für die Tarifpolitik, die sich fragen muss, an welche Kriterien oder Kompetenzen die Entlohnungshöhe gekoppelt überhaupt gekoppelt werden kann und wie das objektiv gemessen werden soll? In der Folge stellt sich dann auch die Frage wie denn Teilzeitgehälter berechnet werden oder was dann aus dem Mindestlohn wird?
    Das wird spannend!
  • Arbeitsgestaltung
    Seit einigen Jahren werden neue Bürowelten gestaltet, die statt eines festen Arbeitsplatzes funktionsadäquate Arbeitsgelegenheiten bieten, die vom Besprechungsraum über die Telefonzelle bis zur Klause alles bieten, was gebraucht wird. Nun erweitert sich diese funktionsadäquate Differenzierung über das Betriebsgelände hinaus auch auf den mobilen Arbeitsplatz oder das Homeoffice, die sehr unterschiedlich ausgestattet sind, was mit individuellen Dispositionen des und der jeweiligen Beschäftigten zusammenhängt. Daraus ergeben sich recht differenzierte Anforderungen an die Ergonomie des mobilen Büros. Hier muss nämlich der Einzelarbeitsplatz im Vordergrund stehen und standardisierte Lösungen werden nicht helfen. Es wird auch nicht qua Verfahrensanweisung und Vorschrift funktionieren, sondern mit der Qualifizierung der Beschäftigten, die lernen müssen, die Ergonomie ihrer Arbeitsplätze einschätzen zu können. Das ist der erste Schritt, denn nicht alle werden bei Defiziten auch Abhilfe schaffen.
    Insgesamt wird es also darum gehen, diese neue Entwicklung als städte- und wohnungsbaupolitisches Thema auf die Agenda zu setzen, genau wie es steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten geben muss, die die Ergonomie des mobilen Büros unterstützen, wobei hier aber auch die Arbeitgeber nicht aus der Pflicht gelassen werden dürfen. Es muss ja nicht immer das billigste Laptop sein…Im Zusammenhang mit der Ausweitung der funktionsdifferenzierten Arbeitsgelegenheiten bis ins eigene Zuhause, stellt sich auch die Frage nach der Funktion des innerbetrieblichen Schreibtisch als Verrichtungsstätte von Arbeit, der nun im direkten Wettbewerb mit dem heimischen Desktop steht. Der Funktionsverlust, selbst wenn dieser nicht umfassend ist, eröffnet den Raum über Bürolandschaften nachzudenken, die deutlich mehr als Orte der Begegnung, der Kommunikation und der Kreativität dienen können, als das bisher der Fall ist.Was aber dabei generell von Nöten ist, sind Leitplanken und Spielregeln für das zukünftige Miteinander, über das was und wie der Zusammenarbeit, insbesondere auch ein Gefühl dafür zu entwickeln, wann Präsenz nötig und wann Online-Meetings hilfreich sind. Da betreten wir noch Neuland.
  • Health Care
    Die Entwicklungen, die bis hierhin dargestellt wurden, bieten auch neue Herausforderungen für den Arbeits- und Gesundheitsschutz, insbesondere für den Bereich der psychischen Belastung.
    So berichteten Kolleg*innen von Phasen betrieblicher Vereinsamung, in denen Sie alleine im Großraumbüro gearbeitet haben und nur vereinzelt andere Mitarbeiter*innen oder Führungskräfte zu Gesicht bekommen haben. Und je nach individueller Disposition und privater Situation bedeutet so etwas, dass der einzige Sozialraum persönlicher Begegnung, den der Arbeitsplatz für viele Menschen eben auch darstellt, wegfällt.
    Und vielleicht schrumpft dieser Sozialraum ja nach der Pandemie dauerhaft und es entsteht die Aufgabe, Alternativen zu schaffen und achtsam zu bleiben, was das mit den Menschen macht.Das wäre dann auch die vornehmste Aufgabe für Führungskräfte, das Team zeit- und raumunabhängig als Team zusammenzuhalten, die Einzelnen im Blick zu behalten, aber das Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei wird das quasi naturgemäß weniger über Kontrolle, als über Vertrauen geschehen können. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an das Projektmanagement, weil Aufgaben und Lieferzeitpunkte als Deadline zur Aufgabenerbringung ja nun stärker in den Fokus geraten, eben weil ja zeit- und raumunabhängig gearbeitet wird.
    Das stellt auch Führungskräfte vor neue Herausforderungen, die durchaus belastend sein können.

Fazit

Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass derzeit zwar nur 25% aller Beschäftigten im Home Office oder mobil arbeiten. Aber diese neue Form des Arbeitens hat das Potential auf das gesamte Arbeitsleben zu wirken, wie vorstehend aufgezeigt wurde. Von daher sind die Akteure von Gewerkschaften über die Arbeits- und Sozialwissenschaften bis hin zu den Arbeitgeberverbänden gefordert, sich diesen Fragen zu stellen, zu forschen und zu gestalten. Die Pandemie hat allerdings wie ein Katalysator auf einige Aspekte der digitalen Transformation gewirkt, weshalb der Druck auf die Beantwortung der Gestaltungsfragen in den kommenden Monaten betrieblich schnell steigen wird, auch weil ein beginnendes Roll Back hin zu konsequent betrieblich abzusitzender Anwesenheitszeit vereinzelt bereits zu beobachten ist. Der Beitrag konnte aber hoffentlich dazu inspirieren und motivieren, an einer zukunftsorientierten Gestaltung der digitalen Transformation zu arbeiten. Vorwärts immer, rückwärts nimmer!

Wir müssen mehr ändern als den Antriebsstrang!

Zusammen mit Lisa Badum, klimapolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, und Anderen habe ich eine Stellungnahme zu der geforderten „Abwrackprämie 2.0“ entwickelt und auf Alternativen dazu hingewiesen.

Mit dabei sind

  • der Konzernbetriebsratsvorsitzenden der Schaeffler AG, Norbert Lenhardt,
  • und der Betriebsratsvorsitzende der ZF Friedrichshafen AG, Schweinfurt und
    Vorsitzende des europäischen Betriebsrats, Oliver Moll
  • sowie der Betriebsratsvorsitzenden von Kennametall am Standort Ebermannstadt, Thomas Bauernschmitt.

Die drei Kollegen repräsentieren allein im fränkischen Raum rund 30.000 Beschäftigte!

Die Transformation der Automobilindustrie hat längst begonnen und die Pandemie kann nicht der Anlass sein, das Rad zurückzudrehen, sondern eher im Gegenteil Beschäftigung und Standorte durch Innovation und Investition in Produkte für eine nachhaltige Zukunft zu sichern!

Ich bitte um weitere Verteilung, Feedback und Kommentare.

 

Wir müssen mehr ändern als den Antriebsstrang –

Beschäftigung sichern durch Strukturwandel statt Konsumstrohfeuer

Die aktuelle Diskussion um eine Autoprämie darf keine Wiederholung der Abwrackprämie bringen. Das trifft nicht den Kern der Sache. Die Automobilindustrie wird weder allein durch eine Prämie für Elektroautos noch für Hybride, und in keinem Fall durch eine Prämie für fossile Autos gerettet. Wir müssen deutlich mehr ändern als die Technologie am Antriebsstrang!

Jahrzehntelang führten Autos aus Bayern und Kfz-Teile aus Franken die Weltspitze der Automobilbranche an. Damit das so bleibt, muss sich was ändern – denn die Welt dreht sich weiter und Franken mit. Große Veränderungen tun sich auf: Die globalen Weltmärkte und internationalen Lieferketten werden durch Handelsblockaden und Brexit-Umsetzung konfrontiert, neben der Antriebstechnik wandelt sich die Nachfrage nach Mobilität und neue digitale Anwendungen halten Einzug in Produktionsprozesse und alltägliche Mobilitätskonzepte. Verschärft wird die Krise durch die Corona-Pandemie. Nach Meinung von ExpertInnen kann das Wirtschaftswachstum im Jahr 2020 um –7% einbrechen.

Aber: Die Autokrise war bereits da, als der Auto-Absatz in Deutschland noch stabil war. 75 Prozent der Produkte der deutschen Automobilindustrie gehen ins Ausland.

Die Autobranche braucht Ideen, die ihre Vielfalt und die verschiedenen Standbeine der Mobilität widerspiegeln

Die Autobranche ist vielfältig. Die Hersteller wie VW, Daimler, Audi und BMW sind in einer gänzlich anderen Situation als kleine Zulieferbetriebe.  Das reicht von der Eigenkapitaldecke bis hin zur Tarifbindung. Wer die Transformation einleiten will, darf deshalb nicht nur über ein Instrument reden, sondern muss das Ziel der Transformation der gesamten Branche im Auge haben. Die Zulieferer leiden seit Jahren unter dem großen Kostendruck der Hersteller. Manche haben sich aufgrund der großen Dominanz der Automobilindustrie aus dem Zulieferergeschäft zurückgezogen.

Zulieferer entwickeln laufend innovative Produkte

Trotzdem haben viele auch unter schwierigen Bedingungen Produkte für veränderte Gegebenheiten entwickelt. Große Zulieferer wie Schaeffler mit dem elektromechanischen Nockenwellenversteller, der sowohl im Verbrenner als auch im Hybridauto einsetzbar ist oder ZF Friedrichshafen mit dem Drehmomentwandler für Verbrenner und Hybridantriebe, sowie Produkten für batterieelektrisch angetriebene Fahrzeuge. Andere Zulieferer haben seit jeher mehrere Standbeine. Beispielhaft hierfür steht der Standort von Kennametal im Landkreis Forchheim mit 500 MitarbeiterInnen, die neben der Autoindustrie auch Werkzeuge an die Frackingindustrie, aber auch an die Kakaoindustrie, Luft- und Raumfahrttechnik und die Busindustrie liefert und ebenso Schneidkörper für Wälzlager für Windkraftwerke produziert.

Ein Investitions- und Konjunkturprogramm für die Automobilindustrie muss diese Diversität beachten und die Transformation der Branche, sowie den Umbau in neue, nachhaltige Produktwelten voranbringen. Dabei muss die Sicherung von Beschäftigung und Standorten im Vordergrund stehen.

Die Krise der Autoindustrie ist keine Corona-Krise. Der Fehler liegt im System. Alte Instrumente wie die Autoprämie verlängern das Leiden, die Sicherung von Standorten und Beschäftigung wird jedoch nur mit einem Maßnahmenpaket gelingen, das Innovation und Transformation fördert!

Denken wir die Autoindustrie endlich mutig als Mobilitätsindustrie. Viele Zulieferer tun dies bereits. Die Industriesparte der Schaeffler AG beispielsweise liefert in den Bereichen Energiegewinnung, über Fahrrädern und Bahn bis zu Automatisierungstechnik zu.

Dabei geht es neben der Weiterentwicklung des Automobils an sich auch um neue Produkte und Dienstleistungen vom Lastenfahrrad bis zum Carsharing und von der Ladesäulenproduktion bis hin zur Softwareentwicklung. Die intelligente Vernetzung von Mobilitäts- und Energiewende ist dabei Bedingung fürs Gelingen! So wird beispielsweise nur durch die flächendeckende Bereitstellung von sauberem Strom eine CO2-neutrale Produktion von Stahl realisiert auf die Autohersteller, ebenso wie Windkraftanlagenbetreiber angewiesen sind, wenn sie klimaneutrale Herstellprozesse nachweisen müssen.  Unterstützen wir also die Zulieferer, indem wird die Energiewende stärken und neue Synergien schaffen.

Es sind in erster Linie die Menschen, die die Branche stark machen

Die Zukunftsfähigkeit der Branche hängt an ihrer Innovationskraft. Das größte Kapital sind die Menschen und ihre Know-How!  Diese Kompetenzen reichen von den Montagen und Fertigungen bis in die Büros. Zusammen mit den Beschäftigten muss nun überlegt werden, welche zukunftsfähigen Produkte mit den vorhandenen Kompetenzen, auch jenseits des Automobils entwickelt und produziert werden können. Das ist eine sehr grundsätzliche Arbeit, weil es schwer fällt nach vielen Jahren Neues zu denken, aber die Produktionsumstellungen der letzten Wochen (Herstellung von Schutzmasken) sind ein gutes Beispiel dafür, dass es geht.

Der weitere Kompetenzaufbau durch Qualifizierung und Qualifizierungszeiten ist dabei gerade auch vor dem Hintergrund der Digitalisierung, die in den letzten Wochen einen ungeheuren Schub erlebt hat, für alle Beschäftigtengruppen vom Un- und Angelernten bis hin zum Hochschulabsolventen dringend nötig!

Die Corona-Krise darf nicht als Ausrede genutzt werden, Sparpakete und Entlassungen zu rechtfertigen.

Die Beschäftigten wissen seit Monaten um die Krise in der Autoindustrie. Es liegen viele umsatzstarke Jahre und bewusst herbeigeführte Überkapazitäten in der Pkw-Produktion hinter dem Sektor, die bereits vor der Corona-Krise aufgelaufen sind. So wurden fast flächendeckend Beschäftigungssicherungen ausgesprochen, die im Gegenzug mit Kostenreduzierungen und Sparpaketen erkauft wurden. Nun sind diese Vereinbarungen durch Corona in Gefahr. Falls es zu betriebsbedingten Kündigungen kommen sollte, werden wir uns klar dagegen wenden.

Eine Hilfe für die Automobilindustrie muss das verhindern. Die Beschäftigten sind in der Krise in Vorleistung gegangen sind und müssen jetzt als Träger der Transformation und des Wandels mitgenommen werden. Es darf nicht sein, dass die Beschäftigten jetzt zu den Verlierern der Situation gemacht werden. Das heißt auch und gerade jetzt, dass die betriebliche Mitbestimmung essentiell ist. Ein regionaler Industriedialog mit BetriebsrätInnen und der Bevölkerung ist jetzt wichtiger als je zuvor.

 Lisa Badum MdB
„Als Klimapolitikerin und Abgeordnete für Oberfranken – einer Region im Umbruch, in der ein Fünftel der Beschäftigten in der Automobilzuliefererbranche arbeiten – weiß ich, wie wichtig es ist, dass eine Region Zukunftsakteure stärkt und eine Zukunftsvision hat.“

Norbert Lenhard
„Als Vorsitzender des Konzernbetriebsrats der Schaeffler AG vertrete ich allein in Franken ca. 22.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir müssen uns bereits jetzt auf die nächsten Schritte nach Bewältigung der Folgen der Pandemie vorbereiten. Für die Zeit nach der Rezession werden die Weichen jetzt gestellt. Wir brauchen Zukunftsvereinbarungen, die Standorte und Beschäftigung sichern und den Wandel unterstützen.“

Oliver Moll
„Ich bin Vorsitzender des Betriebsrats am Standort Schweinfurt und des europäischen Betriebsrats der ZF Friedrichshafen AG. Als überzeugter Europäer sehe ich den New Green Deal als
Kompassnadel für Investitions- und Konjunkturprogramme. Wir müssen die Zukunft sozial und ökologisch angehen, weil nur das auch ökonomisch eine Perspektive im Weltmaßstab hat.“

Klaus Mertens
„Als Referent für den Betriebsrat der ZF Friedrichshafen erlebe ich die Corona-Krise nicht als Auslöser, sondern als Katalysator großer Veränderungen in der Branche. Bereits im zweiten Halbjahr 2019 sind vielerorts Sparpakete und zumeist sozialverträglicher Personalabbau vereinbart worden. Das wird sich in dieser Situation verschärfen und wir brauchen nun erstens Sicherheit für Standorte und Beschäftigung und zweitens, Innovationsoffensiven, die den Wandel der Branche und die Konversion in neue nachhaltige Produktwelten eröffnen.“

Thomas Bauernschmitt
„Als Betriebsratsvorsitzender von Kennametal am Standort Ebermannstadt weiß ich, wie dringend die Arbeitnehmer Antworten auf die unzähligen Fragen erwarten. Gerade jetzt in diesen unruhigen Zeiten gilt es Bündnisse zu bilden und Ideen zu entwickeln, wie Beschäftigung gesichert werden kann und sich die Unternehmen zugleich für die Zukunft aufstellen können. Dafür muss es ein gemeinsames Interesse von Politik, Arbeitgebervertretern sowie Gewerkschaftern und Arbeitnehmervertretern geben, um den Menschen die Angst auf Arbeitsplatzverlust und finanzielle Schwierigkeiten so gut es geht zu nehmen.“

 

Aufbruch – in eine lebenswerte Zukunft investieren!

Der Gesprächskreis „Die Transformateure“, dessen Mitglied ich bin, hat sich in seiner bekannt vielfältigen Mischung, die der Mitglieder_innenliste zu entnehmen ist, in den vergangenen Tagen Gedanken zu den Anforderungen an ein Konjunktur- und Investitionsprogramm gemacht. Dabei geht es uns darum, dieses Programm als Vehikel zu nutzen, um die notwendige sozial-ökologische Transformation nach Vorne zu bringen. Leider mehren sich die Anzeichen, dass das kein Automatismus ist.
Dieses Papier versteht sich deshalb als Beitrag dazu, die Debatte in die Richtung sozialen und ökologischen Fortschritts zu entwickeln.
Ich freue mich über Rückmeldungen, Anmerkungen und Weiterverbreitung.

Aufbruch – in eine lebenswerte Zukunft investieren
Sozial-ökologische Transformation als Leitlinie für Investitionsprogramme
Die Covid-19 Pandemie hat nachdrücklich in Erinnerung gerufen, wie wichtig ein funktionierender Staat zur Sicherung der Grundversorgung und des Daseinsschutzes ist. Neben den aktuellen Herausforderungen wird in diesen Wochen über die anschließenden Maßnahmen und Investitionsprogramme zur Wiederankurbelung der Wirtschaft debattiert und entschieden.

Es gilt also bereits heute wichtige Lehren aus der Pandemie zu ziehen und zukunftsgerichtet zu entscheiden. Gesundheitsvorsorge und Klimaschutz sind auf das engste verknüpft. Ein Beispiel sind die Wetterextreme, die etwa bei großer Sommerhitze zu zahlreichen Toten führen. Der immer stärkere Druck auf die Tierwelt und Ökosysteme verstärkt die Anfälligkeit für Epidemien. Die Feinstaubbelastung als Teil der Luftverschmutzung erhöht diese Anfälligkeiten ebenfalls.

Die sozial-ökologische Transformation zu einer nachhaltigeren Entwicklung sollte die Leitlinie für die anstehenden Maßnahmen und das Konjunkturprogramm sein. Es ist die Aufgabe, damit zukunftsfeste Arbeitsplätze zu sichern, den Klimaschutz in der gebotenen Dringlichkeit voranzubringen, die Artenvielfalt und ökologische Vielfalt zu erhalten sowie lebenswerte Städte und Gemeinden zu fördern: erneuerbar, klimaverträglich, gerecht und sozialverträglich. Anders formuliert: Lebensqualität stärken und Systeme wetterfest machen.

Neben Sofortmaßnahmen ist die Resilienz des Gesundheitssystems dauerhaft zu verbessern. Ebenso sind der Alten- und Pflegebereich sowie die Kitas und die Bildung von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Die Berufe in diesen Bereichen sind aufzuwerten und ihrem Wert entsprechend zu entlohnen. Kulturschaffende, Gastronomie und lebenswerte Städte und Gemeinden sind kein Luxus, sondern sie prägen die Vielfalt des Landes.

Die Krise hat nachdrücklich erlebbar gemacht, welchen Wert Lebensmittel haben, wie leicht Lieferketten reißen können, welche inhumanen Arbeitsbedingungen etwa in der landwirtschaftlichen Gemüseproduktion ganz in unserer Nähe toleriert werden. Die Pandemie kann zur treibenden Kraft für Reformen in der Ernährung und in der Agrarpolitik werden. Es ist ein Wandel, der längst überfällig ist, hin zu einem umsichtigen, sorgsamen und vorausschauenden Umgang mit lebenswichtigen Ressourcen.

Gerade in Zeiten, in denen vorübergehend Abgrenzungen erforderlich sind, ist es wichtig, dass internationale Verantwortlichkeit übernommen wird. Deshalb ist komplementär zu Investitionsprogrammen ein ressourcenorientiertes Lieferkettengesetz zu verabschieden.

Die Krise der Automobilindustrie hat bereits vor dem Ausbruch der Pandemie mit niedrigeren bzw. stagnierenden Stückzahlen, neuen Technologien im Produkt und Automatisierung/Digitalisierung in allen Unternehmensprozessen begonnen. Die Pandemie ist also keinesfalls Ursache der Probleme, sondern kann durchaus als Katalysator auf dem Weg zu einer nachhaltigen Mobilität wirken. Denn viele Menschen machen gerade die Erfahrung sauberer und lebenswerter Städte, guter Luft und einer neuen Wertschätzung von Nähe. Wer also auch immer die Krise nutzen will, um auf dem Pfad hin zu nachhaltiger Mobilität umzukehren, ist auf dem Holzweg!

Die sich abzeichnenden Konjunktur- und Investitionsprogramme müssen fokussiert in Richtung resiliente Wirtschaft und nachhaltige Mobilitätswende zugeschnitten werden. Das bedeutet für die Mobilitätsindustrie neben der weiteren Transformation der Automobilindustrie insbesondere:

  • die Stärkung des ÖPNV und die Förderung von Elektro/Wasserstoff-Antrieben sowie
  • die Stärkung der kommunalen Infrastrukturen für eine aktive Mobilität.

Die Energiewende muss Vorrang bekommen und die in den vergangenen Jahren aufgebauten Hemmnisse sind zügig abzubauen. Ein Programm zum Ausbau einer Metall-Recycling-Infrastruktur ist aufzulegen, das dem Einstieg in eine Kreislaufwirtschaft den nötigen Schub gibt.

Der Klimaschutz ist ein Kernstück der sozial-ökologischen Transformation. Einen besonders wirksamen Beitrag zum Klimaschutz leisten in unseren Breitengraden Moore (hohe CO2-Bindung). Es ist ein groß angelegtes Programm zur Erhaltung und zur Wiederherstellung von Mooren auf den Weg zu bringen. Dieses Programm dient zugleich dem Hochwasser- und Grundwasserschutz sowie dem Erhalt der Biodiversität. Ebenso wichtig ist die CO2-Bindung durch Humusaufbau einer ökologischen Landwirtschaft.

Die aktuelle Trockenheit in vielen Regionen Deutschlands ist ein ernstes Warnsignal des Klimawandels. Über den Brandschutz hinaus ist nachhaltig in Brandprävention zu investieren. Dementsprechend ist die Bewirtschaftung der Wälder in eine naturnahe Waldwirtschaft massiv weiter zu entwickeln und ein Umbauprogramm reiner Nadelwälder in Mischwälder aufzusetzen.

Die Covid-19 Pandemie ist ebenso eine globale Herausforderung wie die Klimakrise. Damit wird die globale Koordination der Staaten umso wichtiger. Zugleich sind entschlossen nationale Antworten zu geben. Beispielsweise ist einerseits eine Re-Adjustierung der Lieferketten erforderlich, etwa die Produktion von Arzneimitteln für die Grundversorgung in Deutschland bzw. Europa. Andererseits sind Grenzziehungen nur als vorübergehende Krisenmaßnahmen angebracht. Vielmehr ist Weltoffenheit und Austausch zu fördern. Nationale Abschließungen und neue Grenzzäune, tatsächlich und mental, sind zu vermeiden.

Viel zu viele Jahre wurde das Mantra vorgetragen: Maßnahmen zum Klimaschutz, zur Mobilitätswende, zum Artenschutz – geht gerade leider nicht, kostet zu viel, gefährdet Arbeitsplätze. In der jetzigen Pandemie-Krise wurde über Nacht sichtbar: Plötzlich geht doch ganz viel. Plötzlich wird Wissenschaft ernst genommen. Je früher die anstehenden Aufgaben für eine sozialökologische Transformation angegangen werden, desto besser. Je länger nicht vorgesorgt wird, desto höher werden die späteren Kosten für unterlassene Vorsorge ausfallen: too little too late.

Es ist ein Konjunkturprogramm aufzulegen, das einen Aufbruch in eine lebenswerte Zukunft verkörpert. Dieses Programm muss auf Verstetigung angelegt sein. In der Vergangenheit gab es viel zu oft gute Einzelprojekte, aber kein konsequentes Umsteuern in Richtung Nachhaltigkeit. Es gilt, Chancen zu nutzen und in eine sozial gerechte und ökologisch verträgliche Zukunft zu investieren: die sozial-ökologische Transformation auf den Weg bringen – weltoffen und solidarisch!

Die Transformateure sind eine Gruppe von Personen, die für die sozial-ökologische Transformation in Richtung einer nachhaltigeren Entwicklung aktiv sind.
Mitglieder:
Dr. Eberhard Faust, Forschungsleiter Naturgefahren und Klimarisiken, Munich Re, München
Dr. Andrea Fehrmann, Leiterin Abteilung Industrie-, Beschäftigungs- und Strukturpolitik, IG Metall Bayern, München
Adrian Ganz, Coaching, Mediation und Teamentwicklung, PolitikLabor, München
Martin Geilhufe, Landesbeauftragter, BUND Naturschutz in Bayern, München/Nürnberg
Josef Göppel, Energiebeauftragter BMZ für Afrika, Vorsitzender Deutscher Verband für Landschaftspflege, Bundestagsabgeordneter 2002 – 2017, Herrieden
Dr. Martin Held, freier Mitarbeiter Evangelische Akademie Tutzing, Koordinator Die Transformateure, Tutzing
Johann Horn, Bezirksleiter IG Metall Bayern, München
Dieter Janecek MdB, Mitglied Ausschuss Wirtschaft und Energie, Ausschuss Digitale Agenda und Enquete-Kommission Künstliche Intelligenz, Deutscher Bundestag, Berlin
Mattias Kiefer, Umweltbeauftragter Erzbistum München und Freising, Sprecher der AGU – Arbeitsgemeinschaft der Umweltbeauftragten der deutschen (Erz-)Diözesen, München
Silvia Liebrich, Redakteurin Ressort Wirtschaft, Süddeutsche Zeitung, München
Richard Mergner, Landesvorsitzender, BUND Naturschutz in Bayern, Nürnberg
Klaus Mertens, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Betriebsrat ZF Friedrichshafen AG, Standort Schweinfurt
Manfred Neun, langjährig Präsident ECF – European Cyclists’ Federation, Memmingen
Jörg Schindler, Vorstandsmitglied ASPO Deutschland – Association for the Study of Peak Oil and Gas, langjährig Geschäftsführer Ludwig-Bölkow-Systemtechnik, Neubiberg
Prof. Dr. Irmi Seidl, Leiterin Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, Zürich
Prof. Dr. Hubert Weiger, Mitglied Rat für nachhaltige Entwicklung, Ehrenvorsitzender BUND Naturschutz in Bayern, Ehrenvorsitzender BUND – Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Fürth

a view from inside the box oder Don`t waste the crisis!

Ich glaube, es ist gerade in diesen Zeiten der Pandemie wichtig, laut darüber nachzudenken, wie aus dem täglichen Tun in den Betrieben nachvollziehbare Bezüge zu den notwendigen, grundlegenderen Debatten abgeleitet werden können, um das Danach aktiv gestalten zu können.
Ich spreche dabei von „den“ Betrieben, weil es zum Teil eigenes Erleben, zum Teil aber auch die Wiedergabe von Gesprächen mit einem Teil von Euch ist.
Ich habe meine Gedanken entlang von fünf Themenclustern strukturiert, um abschließend aufzuzeigen, wo Erfahrungen aus Corona-Zeiten auf ein „buen vivir“ danach verweisen.

1. Die Corona-Krise ist ja nur das i-Tüpfelchen.
Insbesondere bei den Automobilzulieferern ist ja bereits seit dem 3. Quartal 2019 Krisenstimmung, die Sparpakete sind längst aufgerufen und von Audi bis ZF sind Beschäftigungs- und Standortsicherungsverträge verhandelt worden. Die haben wahrscheinlich alle eine Hagelschlagsklausel und hie und da ist zu hören, dass diese Klausel arbeitgeberseitig gezogen werden soll, um die Sparschraube nochmal weiter zu drehen und evtl. betriebsbedingte Kündigungen nicht länger ausschließen zu müssen.

2. Daily Business: Kurzarbeitsverhandlungen und Sozialpolitik
Derzeit geht es in den Betriebsräten hauptsächlich um die betriebliche Ausgestaltung der Kurzarbeit mit all den detailreichen Tücken eines solchen Unterfangens. Da beschäftigen sich die Betriebsräte nun z.B. gerade damit, wie sich Kurzarbeit auf die Höhe des Elterngelds zukünftiger Mütter und Väter auswirkt und ab wann den zumindest Schwangere deshalb von der Kurzarbeit ausgenommen werden müssten. Diese Detailfragen gibt es wie Sand am Meer, wie ihr euch sicherlich vorstellen könnt. Das absorbiert viel Kapazität, erzeugt aber viel Kompetenz zu Fragen des SGBIII.

3. BR und VK goes new work.
Von der Digitalisierung wird vielerorts gesprochen, und nun hält die Digitalisierung mit Gewalt Einzug in die bislang reichlich analoge Arbeitsstruktur der Gremien. BA/BR-Sitzungen via Skype, Verhandlungen mit dem AG als Videokonferenz, ein deutlich höheres Maß verschriftlichter Kommunikation via chat, whats app und was auch immer. Bereichsbetriebsräte im Homeoffice, deren Kalender bislang mit face-to-face Kommunikation und Terminen gefüllt waren, müssen lernen das virtuell zu organisieren, die Ergebnisse zu verschriftlichen und weiter zu verteilen. Das lief sonst zwischen Tür und Angel. Nun erzwingt sich eine Professionalisierung der Arbeit, die manche auch überfordert.

4. Die Transformation geht unter kapitalistischen Vorzeichen weiter
Der Umbau der Branche geht weiter und das Personalkarussell bei OEMs und Zulieferern rotiert fröhlich weiter und Portfoliobereinigungen und Zukäufe werden nicht mehr eingefangen, selbst wenn das gewollt wäre. Das ist alles keine progressive Transformation, sondern das Arbeiten an Umsätzen und Rendite in einer Welt, deren Transformation ausschließlich in der Elektrifizierung des Antriebsstrangs und a bisserl autonomes Fahren besteht.

5. Der Kapitalismus frisst seine Kinder
In der Zulieferindustrie stehen die Margen ja ständig unter Druck, gleichzeitig gibt es notwendige Investitionen, die den avisierten Wandel der Branche möglich machen und bislang auch mit billigem Geld durchaus handhabbar finanziert werden konnten. Nun ändern sich die Ratings und Umsätze brechen ein, was einzelne Unternehmen in irgendwas zwischen Rentabilitäts- und Liquiditätskrise schliddern lässt. Das werden nicht alle Unternehmen schadlos überstehen.

6. Und nun?
Das alles trifft die betriebliche Mitbestimmung ganz aktuell. Und es ist an uns, Ansätze zu entwickeln, die im Sinne einer Arbeit an der sozial-ökologischen Transformation diese Alltagserfahrungen nutzbar machen.
Ich denke an
• die Digitalisierung von Beteiligungsprozessen und die Konsequenz von digitaler Meinungsäußerung
• die Erfahrung mit dem Sozialstaat und seinen Institutionen
• die Erfahrung von Immobilität, ihrer digitalen Kompensation und dem Gewinn von Lebensqualität und -zeit.
• das – zumeist virtuelle – Erleben von Delfinen in der Bucht von Venedig und der – hoffentlich realen – Erfahrung
• von sauberer Luft in unseren Städten
• die homöopathische Erfahrung von Konsumentzug
• die Handlungsfähigkeit und -geschwindigkeit von Politik, die im krassen Widerspruch zu den Zögerlichkeiten in der Klima- und Ressourcenpolitik steht.

Ich hoffe, es ist gelungen einen Eindruck zu vermitteln, was auf betrieblicher Ebene gerade los ist und hoffe damit aber auch einen Beitrag zur Debatte liefern zu können, wie wir auch in Corona-Zeiten die notwendigen Veränderungen im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation vorantreiben können.

2019 – stade Zeit – 2020

Das war 2019

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
geschätzte Mitstreiterinnen und Mitstreiter
und Freundinnen und Freunde,

2019 war ein weiteres Jahr der Zuspitzung von Klimawandel, Ressourcenknappheit
und sozialer Frage. Die aktuelle Neuformierung politischer Blöcke und sozialer Klassen
ist eine Reaktion darauf. Dabei stimmt sicherlich nicht alles hoffnungsfroh, weil auch
autoritäre Konzepte Zuspruch erfahren, die wissenschaftliche Erkenntnisse und damit
schlussendlich das Projekt der Aufklärung schlicht ignorieren.

Etablierte Gewohnheiten, Lebensstile und Produktwelten stehen zur Disposition und
der „Wind of Change“ liegt in der Luft, entweder als krisenhafte Reaktion auf die
sozial-ökologischen Herausforderungen oder als Wunsch nach dem „buen vivir“,
einem guten Leben jenseits von Wachstumswahn, Konsumterror und Egoismus.

Das sind in 2019 Auseinandersetzungen geworden, die nicht länger im Seminar oder
der Stammkneipe geführt werden, sondern auch auf der betrieblichen Ebene. Dort geht
es um das sich-Neu-erfinden und um das Verstehen, dass es so nicht weiter geht, wenn es weitergehen soll. Dabei geht es auch um die Fragen von Arbeit und Beschäftigung, die aktuell wieder mal systembedingt, also konjunkturell unter Druck geraten ist.

Wir leben also in spannenden und fordernden Zeiten, was toll ist. Rock`n Roll!
So empfinde ich das jedenfalls und es war schön mit Vielen zusammen am buen vivir
zu arbeiten, zu streiten, zu feiern und zu genießen, was mich in Summe zufrieden auf
das gehende Jahr blicken lässt.
Dafür ein ganz herzliches Danke!

Ich wünsche allen, die kommenden Tage nutzen zu können, um ein
wenig Kraft zu tanken für die Herausforderungen des kommenden Jahres.
Denn eins ist gewiss: Es geht weiter!

Viele Grüße

Klaus Mertens

 

Great.Transformation.Jena Tagungsbericht Tag 5 und Fazit!

Freitag morgen. Der fünfte Tag bricht an und ich habe das Gefühl, das die Woche wie im Flug vergangen ist. Nun gilt es noch die letzten Veranstaltungen mitzunehmen, aber vorher muss die ferienwohn aufgeräumt und gepackt werden. Das mache ich mit ein wenig Wehmut, weil mir diese Einraumwohnung doch sehr gut gefallen hat und ich mich dort auch wohlgefühlt habe. Aber hilft ja nix. Den Rucksack noch schnell im Schließfach am Bahnhof verstaut und los geht’s.

Ich hatte mich für das Panel „Sinnvolle Arbeit – Arbeit neu denken in der Postwachstumsgesellschaft“ entschieden, obwohl es auch eine interessant besetzte Podiumsdiskussion zur digitalen Transformation gab, aber da hätte ich ja selber sitzen können. Nun sollte sich meine Entscheidung auch nicht als das Gelbe vom Ei erweisen. Die Veranstaltung war nämlich keinesfalls als Serie interessanter Vorträge zum Thema mit anschließender Diskussion angelegt, sondern als open space. Und das ist ja nunmal eine Methode, die gekonnt sein will. Das fängt beim Zeitmanagement an, hört beim Themenmarktplatz nicht auf und wer Themen clustert, sollte das nicht um jeden Preis machen. Ich war bedient und bin dann gegangen. Ich muss mir nicht mehr alles geben.

Nachdem ich die gewonnene Zeit sinnvoll verbracht habe und durch den botanischen Garten geschlendert bin, stand zum guten Ende die Abschlussveranstaltung auf der Tagesordnung. Hartmut Rosa, Klaus Dörre und Stephan Lessenich ließen die Tage Revue passieren und diskutierten munter über die Grenzen der Soziologie bzw. ihren gesellschaftspolitischen Auftrag und die Generierung wissenschaftlicher Wahrheit, die sich für Rosa in der Auseinandersetzung mit Gesellschaft immer wieder erweisen muss und einer empirischen Wissensproduktion im Wissenschaftssystem, die Wahrheit quasi produziert. Sehr launig und klug nahmen sich die drei genauso auf die Schippe, wie es Leute tun können, die acht Jahre lang gut zusammen gewirkt haben. Es war ein schöner Abschluss der Tagung auch wenn es keine richtige Antwort auf die Frage, wie es weitergeht mit der Postwachstumsforschung in Deutschland, wenn der Rahmen der DFG-Forscher_innengruppe nun wegfällt. Ein solcher Nukleus scheint mir dringend von Nöten! Es gibt noch so viel zu tun und denken.

Apropos denken. Zum Schluss möchte ich noch ein Fazit ziehen, in dem ich ein Bild entwickele, wo die Themen des Transformationsdiskurses liegen.
Zunächst scheint mir der physikalische Rahmen sozialen Handelns gesetzt. Klimawandel und Ressourcenknappheit sind die Faktoren, die gesellschaftliche Entwicklung treiben werden und zwar auf allen Ebenen.

  1. Da geht es zunächst um eine Wiederbelebung der Sozialstrukturanalyse, die ausloten muss, welche Formationen da sind, entstehen oder verschwinden und welche mit welcher in welchen Austauschbeziehungen steht.
  2. Das gilt insbesondere auch für die Betrachtung der Arbeitsbeziehungen, die eben nicht nur durchs Klima, sondern auch durch Konjunktur und Computer, sprich Digitalisierung beeinflusst werden.
  3. Mir erscheinen die Ansätze mit Bourdieu, Gramsci oder wem auch immer die kulturelle Dimension gesellschaftlicher Formationen und ihrer Auseinandersetzungen sowohl in der Sozialstrukturanalyse als auch in der Arbeitssoziologie stärker zu betonen, mehr als hilfreich, sondern zwingend notwendig.
  4. Daran anknüpfend erscheint aus dem Ansatz politischer Beratung heraus, die Frage erfolgreicher Narrative für die große Transformation, genau wie die Widerstände dagegen eine wichtige Aufgabe soziologischen Tuns auf allen Ebenen zu sein, von der Gesellschaft bis hin zum Betrieb oder dem Verein.
  5. Diese Narrative werden meiner Meinung nach immer auch die Krise und das Versagen des Kapitalismus als System diskutieren müssen, weshalb auch die Frage komplexer Gesellschaftstheorie auf der Tagesordnung steht.

Das sind so die fünf Punkte, die mir wie ein roter Faden durch diese großartige Woche erscheinen. Das hängt natürlich damit zusammen, dass ich nicht mit allen 1300 Teilnehmer_innen gesprochen habe oder alle der sicherlich mehr als 300 Veranstaltungen besucht habe. Von daher freue ich mich aber von anderen Eindrücken der Tagung mitzubekommen. Und vielleicht gelingt es ja auch den wunderbaren Geist und die Stimmung dieser Konferenz in die kommende Arbeit mitzunehmen.
Ich würde es mir sehr wünschen!

Great.Transformation.Jena Tagungsbericht Tag 4

Lampenfieber. Wie immer. Heute Nachmittag muss ich in die Bütt. Ich werde das in diesem Leben wohl nicht mehr los. Aber egal, Ist ja erst heute Nachmittag. Zum Aufwärmen geht es in ein Panel, das sich mit kollektiven Arbeitszeitverkürzungen beschäftigen will. Nach dem riesigen Erfolg der letzten IG Metall-Tarifrunde und den vielen Menschen, die lieber die Chance auf mehr Freizeit genutzt haben, als noch mehr Geld zu verdienen, steht es geradezu auf der Tagesordnung über weiteren Schritt zur kollektiven Verkürzung der Wochenarbeitszeit nachzudenken. Aber die IG Metall ist erst ganz zum Schluss dran.

Vorher trägt Ursula Stöger (Augsburg) ihre Forschungen zum Thema vor, die sich im Kern auf eine 30h-Woche und einen erweiterten Arbeitsbegriff unter Einbeziehung der CARE-Arbeit beziehen. Hinzu kommt dann eine durchaus denkenswerte Verlängerung der Lebensarbeit, die der weiteren Inklusion Älterer dienen soll. Das funktioniert allerdings nur, wenn die Arbeit die Menschen nicht fix und fertig macht, was ein anderes Produktions- und Sozialmodell von Nöten machen würde.
Interessant ist der Gedanke die normative Verringerung der Wochenarbeitszeit als Ausgangspunkt für ebendiese systemischen Veränderungen herzunehmen. Die Augsburger Soziolog_innen begründen das auch historisch mit dem Hinweis auf die Arbeitszeitgesetzgebung als erste Intervention in die kapitalistischen Arbeitsbeziehungen. Ob allerdings eine verkürzte Wochenarbeitszeit tatsächlich auch eine Wachstumsbremse wäre, bleibt für mich eine offene Frage. Historisch gesehen kann ja die 35h-Woche auch als ungeheurer Produktivitätsmotor  und Leistungsverdichterin gesehen werden. Hört keiner gern, ist aber so.
Und unabhängig von der wohl stärker zu beleuchtenden wachstumshemmenden Funktion, aber mit Keynes gedacht, steht eine grundsätzliche Arbeitszeitverkürzung und eine andere Verteilung der Wohlstandsgewinne doch längst auf der Tagesordnung. Eigentlich.

Im Nachgang stellt der Altmeister der deutschen Zeitforschung, Ulrich Mückenberger, das Optionszeitenmodell vor, dass er und sein Team entwickelt haben und das den „atmenden Lebensläufen“ gerecht wird. Atmende Lebensläufe ist die Klammer für die Beobachtung, dass sich Lebensphasen immer kleinteiliger gestalten und während früher mit Kindheit – Schule/Ausbildung – Arbeit – Rente alles gesagt war, gibt es heute Weiterbildungsphasen, Eltern- und Pflegezeiten, sowie Sabbaticals oder ehrenamtliche Einsätze im Ausland etc.. Dem soll mit einem zentral geführten Zeitkonto gerechnet werden, von dem Arbeitnehmer_innen im Umfang von etwa 9 Jahren bei Bedarf Zeiten entnehmen können. Zentraler Punkt der Überlegungen ist bei dem Modell, die Care-Arbeit stärker in die Erwerbsarbeit zu integrieren und somit auch die Teilung dieser Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern zu verbessern. Das machen die Schweden auch ganz klug. Die Elternzeit verfällt schlicht, wenn sich die Elternteile die Zeit nich 50:50 teilen. Wahrscheinlich geht’s nur so. Das Optionszeitenmodell macht einen seriösen Eindruck hinsichtlich Konzeption und Zielsetzungen: An den Finanzierungsfragen wird noch gearbeitet.

Dann stellt Dr. Heidi Schroth die Überlegungen der IG Metall vor, die ja eigentlich bekannt sein dürften. Es geht aktuell darum, wie das Thema Arbeitszeiten tarifpolitisch weiterverfolgt wird und wie sich die zweite Runde von verkürzter Vollzeit und T-ZUG darstellt. Es geht auch darum, abzulesen wie hoch das Interesse an weiterer Arbeitszeitverkürzung denn überhaupt ist, weil sich nur daraus die sicherlich notwendige Arbeitskampffähigkeit ableiten lässt. Alles klar. Alles sehr operativ. Die Diskussion um kollektive Arbeitszeitverkürzung als Postwachstumshebel wird leider in der IG Metall eher nicht geführt, scheint mir.

Dann ist auch dieses Panel vorbei. Es war eine gute Einstimmung in die Nachmittagsveranstaltung, bei der ich nun auch nen Part habe. Aber vorher ist Mittagspause, mache mir den Rest Nudeln von gestern warm und versuche mein Lampenfieber in den Griff zu kriegen. Geht aber nicht und so bummele ich noch ein wenig durch dieses wirklich lauschige, aber durchaus quirlige Stadt. Dann stehe ich nur ein wenig zu früh vor den Rosensälen, wo die Sause steigen soll.

Das Panel steht unter der Überschrift „Zeitwohlstand in der Arbeitswelt von Morgen“ und soll aus verschiedenen Perspektiven den Frame Zeitwohlstand genauer fassen. Und das sowohl hinsichtlich seiner Ausgestaltung, als auch der Restriktionen.
Den Einstieg machen Christoph Bader und Hugo Hanbury aus Bern, die in einem spannenden Projekt versuchen die ökologischen Effekte individuell reduzierter Arbeitszeit fassbar zu machen, indem Sie mit Menschen, die reduzieren wollen oder schon reduziert haben Interviews zu ihren Konsumgewohnheiten führen. Dieser Konsum wird dann hinsichtlich seines ökologischen Fußabdrucks bewertbar gemacht und in einer dritten Phase werden die Ergebnisse mit den Teilnehmer_innen der Studie reflektiert. Das ist von daher spannend, weil ja nicht jede Arbeitszeitverkürzung auch einen ökologisch positiven Effekt hat. Es soll nämlich Leute geben, die in jeder freien Minute mit Ryanair oder wem auch immer durch die Gegend fliegen. Und wie ein gesellschaftliches Klima für eine ökologisch vertretbare Zeitgestaltung aussehen soll, ist doch die Gretchenfrage. Vielleicht gibt das Projekt ja weiterführende Auskünfte.

Im Anschluss sprach der Berliner Jochen Dallmer zum subjektiven Wohlbefinden und der Verwendung von Zeit. Und auch er arbeitete heraus, dass die Wertschätzung eines Mehr an Zeit viel mit subjektiven Dispositionen und Konsumvorstellungen zusammenhängt und nicht zwangsläufig nachhaltig sein muss. Aber das es empirische Belege darfür gibt, dass die Zufriedenheit derer größer ist, die mehr machen und tun als kaufen und konsumieren. Klingt komisch, ist aber so!

Im Nachgang dazu stellte Shih-cheng Lien vom DJI das Optionszeitenmodell, das morgens ja schon Ulrich Mückenberger (siehe oben) vorgestellt hatte. So klein ist die Welt der soziologischen Zeitforschung.

Und dann standen Gerrit von Jorck von der TU Berlin, Elena Tzara vom Premium-Kollektiv und ich in der Bütt und stellten entlang der Projektskizze „Zeit-Rebound, Zeitwohlstand und Nachhaltiger Konsum“ das methodische Vorgehen, die inhaltlichen Thesen und die konkreten Interessen der Projektpartner_innen (zu denen ich und dieser Automobilzulieferer für den ich arbeite gehören) vor. Worum geht es?
Ausgangspunkt ist die These, dass die Belohnung für lange Arbeitszeiten und/oder fordernde Aufgaben oft genug in sinnfreiem Konsum aufgelöst werden kann, der vom 70. Paar Schuhe (Ok. die Sinnlosigkeit eines 70. Paar Schuhe wird von dem einen oder der anderen bezweifelt. Ich glaube aber fest daran.) über den immer aller neuesten Weber-Grill bin hin zu Online-Käufen, die nie ausgepackt werden, reichen kann. Wer sich dem Zeitregime oder den Leistungsanforderungen entziehen kann, hat zumindest die Option aus dem Teufelskreis von Arbeiten – Belohnen – Konsumieren auszubrechen. Diese Option ist beim Premium-Kollektiv quasi Gründungsgedanke. Selbst gewählte Arbeitszeiten, Einheitslohn und seit 17 Jahren erfolgreich am Getränkemarkt. Geht doch. Und Elena erzählt das mit so großer Selbstverständlichkeit, das die Möglichkeit einer anderen Welt greifbar im Raum steht.
Dagegen sieht die industrielle Welt in der ich unterwegs bin, anders aus. Dreischichtbetrieb: eine Woche Früh – eine Woche Spät – eine Woche Nacht; bei Wochenendarbeit bis zu zwölf Arbeitstagen am Stück; in getakteten Fertigungen mit nur wenigen Handgriffen. Monotonie. Das reiße ich an und spreche auch den Mythos männlicher Vollerwerbstätigkeit und Arbeit an. Denn der steht einer anderen Arbeitsgesellschaft oft mehr im Weg als zu vermuten wäre. Aber alle die mal versucht haben, ergonomische Schichtsysteme einzuführen, wissen, wie massiv das ist. Deshalb versucht meine kleine Firma auch diesmal nicht über Ergonomie und andere Rationalitäten zu kommen, sondern über das Narrativ des Zeitwohlstands und dem gewünschten Streben danach!
Nach den Impulsvorträgen geht das Panel, vielmehr die Teilnehmerinnen, in drei Arbeitsgruppen, die sich mit Zeitwohlstand aus individueller, gesellschaftlicher und unternehmerischer Ebene entlang der Frage wie Zeitwohlstand im Jahr 2045 aussieht und wie wir ab heute dahinkommen beschäftigen.
Abschließend schauen wir uns die Ergebnisse des kurzen Workshops an und kommen überall eigentlich zu ähnlichen Ergebnissen: Es braucht ordnungspolitische Rahmensetzungen, die von einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung um einen nachhaltigen Umgang mit der Zeit flankiert wird, der den protestantischen Leistungsbegriff genauso angeht, wie die Geringschätzung des Flaneurs.
Da bin ich dabei, da mach ich mit.
Das Panel war gut und ich bin zufrieden mit den Ergebnissen, die sicherlich im Nachgang nochmal genauer angeschaut werden müssen.

Der Tagungstag soll mit einer Podiumsdiskussion zu den Konsequenzen niedrigen Wachstums und der Zukunft Europas zu Ende gehen, aus der dann leider nichts wurde, weil sich außer Karl Aiginger sämtliche Diskutant_innen entschuldigen ließen. Nun war ich schonmal da und so habe ich mir den Mann auch angehört. Das war recht interessant, wenn das inhaltliche Zuhören nicht gerade von seinen rhetorischen Entgleisungen gestört wurde. Dazu später mehr. Er skizzierte zunächst die sieben Transformationen, die er für den europäischen Kontext zentral hält.
Es geht dabei um den Übergang von einer Wachstums-  zu einer Gesellschaft  niedrigen oder Null-Wachstum oder gar Schrumpfung. Dem niedrigen Wachstum oder der ökonomischen Schrumpfung in Europa setzt er den Aufstieg Afrikas gegenüber. Daneben spielen der demografische Wandel hin zu einer alternden Gesellschaft genauso eine Rolle wie die Entleerung ganzer Räume. Des weiteren sieht er den Bedeutungsgewinn des Themas Klimawandel und die Krise des Narrativs der notwendigen preislichen Wettbewerbsfähigkeit, sowie eine „verantwortlich“ betriebene Globalisierung am Horizont aufscheinen. Bis auf das Thema des Aufstiegs Afrikas war das jetzt nichts wirklich Neues. Das arbeitet er auch deutlich und mit einer Vielzahl Argumente heraus. Ich merke aber das ich fertig bin und nicht mehr richtig folgen kann und will, warte aber das Ende des Vortrags ab und nehme die gut vorgetragene Kritik an seinen Sprachbildern erfreut zur Kenntnis. Dann mache ich mich vom Acker.

Nun ist das ja der letzte Abend in Jena und den will ich würdig begehen und kehre in einem netten Lokal ein, dass mir schon die Tage vorher aufgefallen war. Nach der ersten Kürbissuppe der Saison, hier ein wenig aufgeschäumt und damit leichter gemacht, gabs Hühnchen auf dreierlei Möhren und einem Bratkartoffelsoufflee. Zum Schluß Creme Brulee mit rote Grütze – Sorbet. Dazu gibt’s einen unaufgeregten, aber aufmerksamen Service und n lecker Weißburgunder. Ein rundum gelungener Abend. Die Weintanne ist echt zu empfehlen. Word!