92. Etappe: Sahagun – Mansilla de las Mulas

Herrgott, wann hab ich das letzte Mal auf dieser Wanderung so wohl gefühlt? Ich sitze jetzt am Ende eines langen Tages im Garten einer Sidreria und komme zum Schreiben. Der Garten ist voll mit Leuten und es herrscht munteres Treiben. Morgen ist hier ein Mittelalterfest an der Stadtmauer, was aber die Leute nicht von ihrer Freitagsrunde abhält und den Wanderern ists ja eh egal. Mir nicht. Ich genieße das, weil der Tag heute dazu einlädt, also von Anfang an.

Ich bin morgens früh durch Sahagun, einem Namen der in jedem Mittelalterroman zum Jakobsweg fällt, weil es mal das bedeutendste Benediktinerkloster Spaniens war. Damit war die Stadt immer auch Schauplatz des Zwistes zwischen Zisterziensern und Benediktinern, der so voluminös war, daß die Streitigkeiten in der Bayern-SPD homöopathisch erscheinen. Nun bin ich aber im 21. Jahrhundert durch dieses Städtchen gegangen und habe nichts anderes gesehen, als eine Stadt im Umbruch, die sich dem nicht stellen will. Es ist nun nicht mehr als eines dieser Mittelzentren, die es wohl überall gibt. Ärzte, Apotheker und Filailleiter der Bank kommen von da weg und gerade so über die Runden. Die Handwerker haben weite Wege in den Landkreis und das Lebensmittelhandwerk krebst rum. A vendre. Die Gastronomie versuchts mit Internationalismus und es gibt die zwangsläufige Guiness-Pinte, was neben Sonnenstudios und Reisebüros in der Regel ein Zeichen für das langsame Sterben einer Kommune ist. So fängt der Tag ja gut an. Ich im Strukturwandelmodus und mit der Unnachsichtigkeit, die manchem auch schonmal aufstößt. Hier ist tote Hose, und wer gestern abend die Omas und Opas mit den Enkeln auf dem Corso gesehen hat (jaaaa, ich war doch noch mal los. Wollte das sehen.), weiß auch, das die Eltern irgendwo anders sind. Wer da ist, sind diese Pilgerwanderer und -innen. Aber was macht man da? Nichts. Die Bedeutung der Stadt erschließt sich nicht interaktiv oder multimedial, sondern auf verblichenen Blechschildern. Eine Bezugnahme auf die neuere Mittelalterkrimi-Literatur habe ich auch nirgends gefunden, während ich in Tölz vor ein paar Jahren auf mehrere „Mit dem Bullen von Tölz durchs Städtchen“-Rundgänge angesprochen wurde. Also latsch ich da morgens durch und dann weg.

Dann geht es lange in Sichtweise der N120 durchs Land und ich frage mich die ganze Zeit, ob ich das, was ich jetzt sehe, schon vor gefühlten 100 Jahren mit dem Motorrad gesehen habe? Ich bin nämlich in den späten 80ern/ Anfang der 90er Jahre schonmal Richtung Santiago mit der XT gefahren und die N120 kommt mir vor wie eine alte Bekannte. Aber ich kann mich an nichts konkret erinnern, weil es eben ein Unterschied ist, ob ich da mit 80/90/100kmh vorbeiziehe oder zu Fuß gehe und, was mir neulich mal ein Fahradfahrer gebeichtet hat, den Fotoapparat immer zur Hand habe, während selbst der Fahradmensch Aufwand treiben muß, weil er den Apparat eben nicht um den Hals tragen kann. Die Grübelei hat alsbald ein Ende und es geht rechts ab in die Pampa zwischen N120 im Süden und dem kantabrischen Gebirge im Norden.

Im Wanderführer steht, die Strecke hätte was von afrikanischer Savanne. Nun gut, hab ich mir gedacht. Dieser Wanderweg muß ja auch als Abenteuer verkauft werden, deshalb üppig-exotische Vergleiche. Hab ich mir gedacht. Und als maximal durch Daktari und Prof. Grzimek an Afrika geschulter Mensch muß ich sagen, daß das schon so aussah wie in den Siebzigern im Fernsehen. Ohne Löwen. Aber gelbes Gras (keine Getreidefelder) und zwischendrin ein paar Bäume. Einzelstehend. So groß, daß die da mindestens schon immer da stehen. Keine Strommasten und kurzsichtigerweise würde ich auch sagen, daß es nirgends eine Windkraftanlage zu sehen gab. Aber in der Ferne waren Berge, hohe Berge zu sehen, was ein gigantisches Bild ergab, vor allem auch weil in Sichtweite weder vor noch hinter mir irgendjemand zu sehen war. Das war so knapp zwei Stunden echt toll. Dann kam der erste Boxenstopp und die Kampfaufgaben. Am Nebentisch versuchte ein asiatischer Teenager mit Fingersocken (das war mir vorher aufgefallen) zusammen mit zwei Belgiern rauszukriegen, wo sie denn sind. Der Jakobsweg hat in der Gegend nämlich zwei Varianten. Variante 1:Landschaftlich reizvoll. Vier Stunden keine Kneipe. Variante 2: N120 für Fußgänger, aber niemals Angst haben müssen zu Verdursten, was ja für Metropolenkinder, die selbst auf dem Schulweg mit Wasserflasche gesichtet werden, ein echtes Thema zu sein scheint. Egal, die asiatische Kollegin, samt Mutter und die Belgier versuchten nun zu klären, was zu tun ist. Ich habe dann mit meinem Kartenmaterial (also das was der Wanderführer da als Karte reingefriggelt hat. Ist aber mehr als viele andere machen. Deshalb an dieser Stelle mal ein großes Lob an den Rother Bergverlag) mal erklärt, wo wir jetzt sind und welche Alternativen es gibt. Für mich war das ja klar. 18km ohne Shoppingoption, ohne Einkehr. Aber geradeaus und gut ist. Die Belgier guckten dann erstmal nervös in ihrem Reiseführer und haben sich dann wegen der 2Euro günstigeren Herberge für die kürzere Etappe und den insgesamt längeren Weg entschieden und die Kollegin und ihre Mama haben sich dann in der Herberge eingebucht, weil sie mehr als 10km am Tag nicht aushalten. Die Mädels haben mein Verständnis. Die Jungs sollen an ihrem Geiz verrecken. Und ich erwähne an dieser Stelle nochmal das Geiz und Neid zu den Todsünden gehören. Dabei ist mir egal, ob da wer in der Hölle landet, aber ich halte das Nachdenken über die sieben Todsünden und die Frage an sich selbst, ob ich das will bzw. bin, für eine gute Übung. Mach ich auch manchmal. Aber eitel wie ich bin und allgelegentlich aufbrausend, gibt das mit dem Himmel nix.

Dann kamen tatsächlich fast 18km Einsamkeit. Kein Mensch zu sehen, nur menschliche Spuren. Eisenbahntrassen und Autobahnen. Erlebt auf Wegen, die mal von Baufahrzeugen benutzt worden sind. Ich hatte zwischendurch das Gefühl, daß die Spanier diese neuen Straße  genau über den historischen Weg gebretzelt haben, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß irgendwer da zu Fuß her will und auch noch Geld dafür bezahlt, daß das naturnah und verkehrsfern geschieht. Trotzdem hab ich an die Berge gucken können (was schon super ist.Berge, hohe Berge insbesondere, haben sowas Erhabenes. Ich guck da gern hin), bin nicht verdurstet und hab meinen strukturpolitischen Aufschlag des Morgens an Überlegungen zum Thema Straßenbau als strukturpolitisches Instrument fortgeführt, was aber darin gipfelte, daß ich überlegte, welcher Abgeordnete so doof wäre, so eine Arbeit in seinem Büro schreiben u lassen und warum genau die, obwohl sie wissen, daß es eigentlich doof ist, nicht müde werden ihre Hinterbänklererfolge zu feiern, die ein Stück Teer in den Bundesverkehrswegeplan gebracht haben. Ich denke, die spanischen Regionen am Jakobsweg können dazu was erzählen. Wen ich dazu auch einladen würde, wären Leute von Tesla, die zum Auto eine Ladeinfrastruktur anbieten, die sorgenfreie Elektromobilität in Deutschland aufgebaut haben, obne das jemand eine Bürgerinitiative gegründet hat. Jaaaa, tut mir leid. 18km Einsamkeit erzeugen bei mir keine Erleuchtung, nix irgendwie Spirituelles, sondern eben nichts anderes als ein tieferes Nachdenken über die Themen, die anstehen und aus denen wir betriebliche, gewerkschaftliche und staatliche Politik machen müssen. Am besten aus einem Guß. Und mit vielen anderen. Ja, auch mit dir. ☺

Mit alle dem komm ich im Etappenziel an und weiß schon aus der Ferne, daß ich da nicht bleiben werde. Es sieht düster aus. Dunke, gedeckte Farben an den Häusern. Scheisstimmung schon von weit weg. Das wird im Ort nicht besser. Viele vergitterte Fenster und keine Gastronomia, sondern Pilgerversorgungsstationen. Ich will weg, weiter, obwohl das heute schon 31km Strecke waren. Egal. Das geht hier gar nicht. Eine Cola, ein kleines Bier und weiter. Raus aus dem Ort und gleich gehts besser. Weitergehen…Der nächste Ort kommt rasch in Sicht, oh das war nur das Industriegebiet. Aber irgendwann ist gut und ich bin im Ort und komm mir vor wie diese uralt-Villabacha-Villariba Werbung. Da oben das dunkle Dorf, hier die Guten. Ich komme in einer kleinen Pension unter. Der Chef informiert, wo ich gut essen kann, das morgen Fiesta ist und überhaupt. Ich ruhe, gehe aus, kaufe neue Fußsalbe, esse hervorragend und interessant und nun hock ich hier. In der Sidreria. Alles gut. Für heute abend jedenfalls und hoffentlich sind meine MünchnerInnen und die anderen auch heile geblieben. Aber es war ja auch nur ein Amoklauf und kein Bombenangriff, wie die -mir selber impulsiv nahegelegene- Wallung in fb vermuten ließ. Damit bin ich aber wieder dabei drüber nachzudenken, wie wir eine Welt erzählen wollen, die mit Klimawandel, Ressourcenknappheit und Bevölkerungsveränderungen hinsichtlich Raum und Alter (so kann man Migration auch umschiffen ☺) und ein paar Bekloppten so locker umgeht, wie die Leute in Tel Aviv.